Die Inflation frisst derzeit alles – auch politische Mehrheiten. Noch stehen die endgültigen Ergebnisse aus, doch die Partei des US-Präsidenten Joe Biden dürfte mit ziemlicher Sicherheit in der Parlamentswahl am Dienstag ihre Mehrheit in der einen Kammer des Kongresses, dem Repräsentantenhaus, an die Republikaner verloren haben. In der zweiten Kammer, dem Senat, könnten die Demokraten ihre hauchdünne Mehrheit von einer Stimme allerdings halten. Das dürfte sich aber erst am 6. Dezember in einer Stichwahl im Bundesstaat Georgia entscheiden.
Zum einen folgt das Wahlergebnis einer alten US-Tradition. Nur drei Präsidenten in den vergangenen hundert Jahren konnten in der Wahl zur Mitte ihrer Amtszeit Sitze für ihre Partei hinzugewinnen. Zum andern sprachen die beherrschenden Themen dieses Wahlkampfs – Wirtschaft und Sicherheit – klar gegen die regierende Partei. Eine Inflation auf Vierzigjahreshoch fühlt sich für die meisten Amerikaner an, als würde das Land bereits in einer Rezession stecken. Zudem ist landesweit seit Ende der Covid-Lockdowns die Kriminalität merklich gestiegen.
Die amerikanischen Bürger sind heute mehrheitlich unzufrieden bis wütend darüber, wie das Land dasteht. Das bekommen naturgemäss die regierende Partei und der Mann ganz oben zu spüren, wenn es an die Urne geht. Angesichts dieser Ausgangslage ist der «Sieg», den die Republikaner am Dienstag eingefahren haben, aber geradezu erbärmlich. Im 435 Sitze zählenden Repräsentantenhaus dürften sie eine Mehrheit von wohl gerade einmal einer Handvoll Sitze bekommen. Die Partei Lincolns hat angesichts der vielen Probleme des Landes keine überzeugenden Lösungen anzubieten. Dagegen stellte sie unter dem Einfluss von Ex-Präsident Donald Trump in vielen Wahlkreisen geradezu jenseitige Kandidaten auf, die von Wählern in entscheidenden Fällen eine Abfuhr erhalten haben.
Republikanische Chaostruppe
Diese dünne republikanische Mehrheitsfraktion im Kongress, angeführt von einem neuen schwachen Parlamentsvorsitzenden (Speaker) Kevin McCarthy, ist eine Chaostruppe von Verschwörungstheoretikern, Klima- und Wahlleugnern, die gegen jede Tatsache weiterhin die Lüge verbreiten, Trump habe die Wahl 2020 gewonnen. Sie könnten abermals die trumpsche America-First-Strategie fahren und beispielsweise weitere Hilfe für die Ukraine verweigern. Auch ein Freihandelsabkommen mit der Schweiz wird bei ihr kaum auf Zustimmung stossen. Ebenso wenig wie ein neues Atom-Abkommen mit Iran. Die Radikalen in der Fraktion könnten McCarthy gar dazu drängen, ein völlig unbegründetes Amtsenthebungsverfahren gegen Biden anzustreben, das im Senat natürlich nicht die nötige Zweidrittelmehrheit finden würde.
«Trump ist etwas, das in der Politik und vor allem bei den Republikanern eine kurze Halbwertszeit geniesst: ein Verlierer.»
Doch egal ob im Dezember die Demokraten nun ihre hauchdünne Mehrheit im Senat halten können oder der Kongress komplett in republikanische Hand fällt – in Washington wird in den kommenden zwei Jahren politischer Stillstand herrschen. In einem gespaltenen Kongress werden Demokraten und Republikaner sich wohl nur auf Minimalkompromisse einigen. Bidens legislative Agenda ist am Ende. So hat sich das Vorhaben einer globalen Mindeststeuer, die auch die Europäische Union anstrebt, fürs Erste erledigt. Sollte andersherum ein republikanischer Kongress Gesetzesentwürfe verabschieden, kann sie der US-Präsident mit seinem Veto verhindern.
Für den Aktienmarkt war diese Konstellation des Stillstands in Washington in der Vergangenheit dagegen stets die beste aller Welten. Politische Unsicherheit reduziert sich dabei auf ein Minimum, die Wirtschaft hat Ruhe. Das spricht jetzt eigentlich für US-Aktien. Doch hat diese Konstellation auch das Potenzial, das Land an den Rand der Zahlungsunfähigkeit zu bringen. Kommendes Jahr muss die Schuldenobergrenze erhöht werden. Am Ende dürften sich Republikaner und Demokraten hier wie immer einig werden. Doch es bleibt abzuwarten, wie weit die Republikaner ihr Blatt hier ausreizen werden, um Biden und den Demokraten Konzessionen abzuringen. Je nachdem kann es, wie schon 2011, zu Verwerfungen am Anleihenmarkt und zur Herabstufung der US-Bonität kommen.
Trump, der Verlierer
Alles, was jetzt im Kongress passiert, steht auch vor dem Hintergrund der nächsten Präsidentschaftswahl 2024. Der Wahlkampf dafür hatte bereits begonnen, noch bevor der letzte beendet war. Ex-Präsident Trump, der Mann der zum Jahreswechsel 2021 versuchte, das Wahlergebnis zu fälschen und die Anerkennung von US-Präsident Biden gewaltsam zu verhindern, sagte diese Woche, am 15. November habe er eine «grosse Ankündigung» zu machen. Es wird allgemein erwartet, dass Trump nochmals die Kandidatur für seine Partei anstreben wird. Ob er sie erhält, ist dabei längst nicht ausgemacht. Das kümmerliche Abschneiden am Dienstag geht zu einem guten Teil auch auf seine Rechnung.
Trump kam 2016 ins Amt, weil der amerikanische Präsident durch eine Art Ständemehr gewählt wird. In seltenen Fällen kann es passieren, dass der Kandidat gewinnt, der kein Volksmehr erhält – und das hat Trump eben nicht bekommen, genauso wenig wie in der Wahl 2020. Bei einem dritten Mal würde es nicht anders sein. Trump ist etwas, das in der Politik und vor allem bei den Republikanern eine kurze Halbwertszeit geniesst: ein Verlierer. Das muss mittlerweile auch seinen Anhängern dämmern.
Der einzige grosse republikanische Gewinner dieser Wahl ist der Gouverneur von Florida, Ron DeSantis. Er hat seine Wiederwahl per Erdrutschsieg gewonnen, weil er seinen Staat bärenstark aus der Pandemie geführt hat. So hat DeSantis das politisch einst heiss umkämpfte Florida zur republikanischen Hochburg gemacht. Er wird gute Chancen haben, wenn sich in wenigen Monaten ein buntes innerparteiliches Kandidatenfeld tummeln wird. Wollen die Republikaner je wieder einen der ihren ins Weisse Haus schicken, brauchen sie jemanden wie DeSantis. Jemanden, der die so wichtigen Wechselwähler überzeugen kann. Trump hat das nie wirklich vermocht und wird es niemals mehr können.
«…wenn ihr sie bewahren könnt»
Doch egal, ob nun das Duell 2024 eine Neuauflage von 2020 sein wird oder nicht, die amerikanische Demokratie könnte vor ihrer grössten Bewährungsprobe stehen – eine, die die chaotischen Vorgänge nach der letzten Präsidentschaftswahl in den Schatten stellen könnte. Das hat direkt mit den Ergebnissen der Wahlen in dieser Woche zu tun. In Arizona zweifelt die trumpsche Gouverneurskandidatin Kari Lake noch vor Ende der Wahl, in der sie momentan zurückliegt, das Ergebnis grundsätzlich an.
In anderen Staaten wurden republikanische Wahlleugner in das Amt des obersten Wahlorganisators gewählt. In einigen Staaten haben sich republikanisch dominierte Parlamente längst das Recht gegeben, Wahlergebnisse nach ihrem Gusto umzudeuten. Eine republikanische Kongressmehrheit könnte es 2024 auch schlicht wagen, ihren Kandidaten einseitig zum Sieger zu erklären. Unter Trump hat eine erschreckend grosse Zahl republikanischer Politiker den Respekt vor den einfachsten Spielregeln der Demokratie verloren.
Besinnt sich die Partei nicht bald wieder auf diese Spielregeln, könnten die USA zum Jahresende 2024 in eine Staatskrise stürzen, für die die Väter der Verfassung einst keine Lösung ersonnen hatten, auch weil sie davon ausgingen, dass ehrbare, weise Bürger dem System stets Sorge tragen würden. Nachdem die Verfassung vor 235 Jahren am 18. September 1787 im Parlamentsgebäude des Bundesstaats Pennsylvania unterzeichnet worden war, trat Gründervater Benjamin Franklin vor die Tore des imposanten Gebäudes in Philadelphia. «Was haben wir nun, eine Republik oder eine Monarchie?», soll ihn eine Dame der Legende nach gefragt haben. «Eine Republik…», habe Franklin geantwortet und fügte nach kurzer Kunstpause hinzu: «…wenn ihr sie bewahren könnt».
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Meinung – Der einzige Sieger der US-Wahl heisst DeSantis
Die Demokraten dürften ihre Mehrheit im Kongress verloren haben. Doch der «Sieg» der Republikaner ist erbärmlich. Das zeigt: Für den Wahlkampf um die Präsidentschaft 2024, der bereits begonnen hat, dürfen sie keinesfalls nochmal auf Trump setzen.