Der Kindlifresserbrunnen gehört zu Bern wie der Bärengraben. Eine Kopie würde auch dem Londoner Regierungsviertel Westminster gut anstehen: ein «Ogre», wie ein menschenfressendes Ungeheuer auf Englisch heisst. In diesem Fall stünde es symbolisch für den Riesen Europa, der kleine britische Premierminister verschlingt. Vorzugsweise solche aus den Reihen der Tories.
Das hat eine lange Tradition. Margaret Thatcher stürzte 1990 vor allem wegen des Streits im Kabinett um die künftige EU-Währungsunion, der Thatcher gar nichts abgewinnen konnte. Ihr Nachfolger John Major fuhr dagegen einen EU-freundlichen Kurs und liess sich von «Maggie» nicht fernsteuern. Er sah das Vereinigte Königreich «at the heart of Europe» und brachte den Maastrichter Vertrag durchs Parlament. Doch dieselbe Tory-Partei, die Thatcher wegen ihres «No, no, no!» zu einer tiefer integrierten EU hatte fallen lassen, sagte nun «No, no, no!» zu Majors Europapolitik; er verlor die Wahlen 1997, Labour-Chef Tony Blair kam an die Macht.
Tories im Brexit-Blues
David Cameron war so halsbrecherisch, dem nicht an Plebiszite zu Sachfragen gewöhnten Land im Juni 2016 die Brexit-Frage zu stellen. Die Wahlbeteiligung betrug 72,2%, für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union stimmten 51,9% der Wähler, also 37,4% aller Wahlberechtigten. Schottland und Nordirland lehnten den Austritt ab. Cameron trat zurück.
Was die Heilsformel Brexit konkret bedeutet, blieb lange vage – «Brexit means Brexit», sagte Camerons Nachfolgerin, die glücklose Theresa May etwas ratlos. Ihr wurde klar, dass austreten viel schwieriger ist als beitreten (eine Lektion, die in der fernen Schweiz aufmerksam zur Kenntnis genommen wurde). Jedenfalls war May ein weiteres Opfer des Ogre. Im Mai 2019 verlautete, dass sie eine erneute Abstimmung zum EU-Austrittsabkommen im Unterhaus plante und das als Abstimmung über eine abermaliges Referendum Verstand. Im Juli darauf wurde sie zum Rücktritt gedrängt.
«Charles III. kann im 75. Lebensjahr keine frische Kraft mehr sein, weit eher ein Epochenverschlepper.»
Entr’acte Boris Johnson. Ob er überhaupt je eine unabhängige, fundierte Meinung hatte zum Brexit, ist ungewiss. Boris’ Programm hiess (und heisst) Boris. Seine Schrullen, Spleens und Skandale waren, in schwierigen Zeiten, denn doch zu viel. Auf ihn folgte für wenige Wochen Liz Truss – nicht einmal eine Fussnote. Seit Oktober ist nun Rishi Sunak in 10, Downing Street. Er könnte indirekt ein Langzeitopfer des Brexit sein, wegen der Spaltung und Schwächung der Konservativen Partei und des ganzen Landes. Sunak ist seit vergangenem Oktober im Amt; spätestens im Januar 2025 muss das Unterhaus neu bestellt werden.
Derzeit sieht es nicht gut aus für die regierenden Konservativen: Umfragen sehen Labour weit voraus, was im britischen Majorzsystem wohl einen «Erdrutsch» zur Folge hätte. Es ist wahrscheinlich, dass die Ära wenig überzeugender Tory-Premiers, die seit 2010 andauert, zu einem vorläufigen Ende kommen wird. Wobei auch Labour sich im Brexit-Drama schillernd zeigte. So oder so: Die Tories wirken verbraucht und brauchen eine Frischzellenkur.
Wer auch immer das Vereinigte Königreich regieren wird – Labour-Chef Keir Starmer? –, ist nicht zu beneiden. Nicht nur ist kein Brexit-Impuls zu spüren, sondern die Schwierigkeiten häufen sich, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Das Königreich ist so uneins wie seit langem nicht. So etwas wie innere Harmonie war letztmals vielleicht aus Anlass der Olympischen Spiele in London 2012 spürbar gewesen. Beziehungsweise im vergangenen September, als Königin Elizabeth II. starb und beigesetzt wurde. Damals allerdings mit einem gehörigen Schuss Nostalgie, mit dem Gefühl womöglich, dass etwas vorüber ist. Charles III., der sich am 6. Mai wird krönen lassen, kann im 75. Lebensjahr keine frische Kraft mehr sein; er wirkt eher wie ein Epochenverschlepper.
Die Balance erhalten
Das Leiden an den Beziehungen zum europäischen Festland datiert jedoch nicht auf die Neunzigerjahre oder auf 2016. Es ist älter als der Fauxpas-de-deux, sozusagen, den die Schweiz seit Jahrzehnten mit der EU vollführt. Das Inselreich ist seit jeher mit von der Partie und zugleich abseits. Londons Raison war stets die, auf dem Festland ein Gleichgewicht der Mächte zu erhalten. Dazu freilich ist das Vereinigte Königreich von heute allein zu schwach. Der frühe und entschiedene Stellungsbezug Londons gegen Putins Raubfeldzug entspricht dieser Tradition, aber ohne Führung der Amerikaner wäre er blutleer.
Zwischen Deutschland und Frankreich wiederum gibt es nichts mehr auszubalancieren. Wahrscheinlich hätte Whitehall mehr erreicht im Rahmen der EU: die Deutschen abgebracht von ihrer komplexbefrachteten Zögerlichkeit, die Franzosen von ihrer seltsamen Priorität, den Kreml bloss nicht zu demütigen. Jüngst besuchte Premier Sunak den französischen Präsidenten Macron; die beachtliche Publizität belegt, wie ungewohnt einst selbstverständliche Routine wegen des Brexit bereits ist.
Europa, mithin die EU wird für das Vereinigte Königreich der zentrale Bezugspunkt sein, die Spannung zwischen kontinental und maritim Gesinnten als historische Konstante bleiben. Manches ändert sich wirklich nie. So schrieb der prominente Tory Viscount Bolingbroke 1738 von seinem Land: «...the character of her people and the nature of her government, fit her for trade and commerce...The sea is our barrier...»; das Königreich solle sich aus kontinentalen Händeln heraushalten und sich auf seine Seemacht konzentrieren. Lordkanzler Earl of Hardwicke dagegen meinte 1750: «No man of sense or integrity will say that you can quite separate yourselves from the continent. A commercial Kingdom must have connections there.»
Schweizer Europakenner
Was damals vielleicht anders, sogar besser war als heute: Der britischen Oberschicht war das Festland vertraut, die Kenntnis zumindest des Französischen war selbstverständlich, die «Grand Tour», die Kavaliersreise durch Deutschland, Frankreich, Italien usf., gehörte zum guten Ton. Zudem: In den Staatsdienst wurden auch qualifizierte Ausländer berufen.
So war etwa der Basler Jurist Lukas «Sir Luke» Schaub (1690–1758) Londons Chargé d’Affaires zuerst beim Heiligen Römischen Reich, dann in Frankreich. François-Louis de Saint-Saphorin (1668–1737) aus dem bernischen Waadtland diente als Militär und Diplomat mehreren Herrscherhäusern. Von 1717 bis 1727 war Saint-Saphorin britischer Resident in Wien. Er musste sich die Korrespondenz aus London ins Französische übersetzen lassen, seine Depeschen wurden in London ins Englische übertragen. Dem Hof in Versailles diente er nie, weil er Protestant war und der Vormacht Frankreichs auf dem Kontinent misstraute – very British.
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Meinung – Der «Kindlifresser» von Westminster
In jüngerer Zeit hat das Hin und Her in den Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union wenigstens vier britische Premiers der Konservativen das Amt gekostet.