Adolf Hitler oder Benito Mussolini wären heutzutage Putin-Versteher: über Nachbarstaaten herfallen und deren Land rauben, das war exakt der Ungeist der 1930er und 1940er Jahre. Jetzt ist er wieder aus der Flasche, ein langes Menschenleben nach der Kapitulation der Nationalsozialisten. Das verheisst Unheil.
Seinerzeit war der Sozialist Stalin der Dritte im Bunde der Landräuber. Zunächst besetzte er, in trauter Absprache mit dem Seelenverwandten und Waffenbruder ad interim Hitler, den östlichen Teil Polens. Nach Deutschlands Niederlage liess er quer durch Europa den Eisernen Vorhang herunter. Östlich davon herrschte sowjetische Friedhofsruhe; 1956 setzte Moskau diese mit Panzern in Budapest durch, 1968 in Prag.
Europa wird an seinen östlichen Rändern abermals vom alten Dämon des schurkischen Imperialismus heimgesucht. Ressentiments, gegen die USA und Europa allgemein und besonders gegen jene verstockten Ukrainer, die partout nicht zugeben wollen, dass sie Russen sind, steuern im Kreml die Politik. Nicht Realismus und Rationalität, wie sogar weiter westlich der Welt Woche für Woche weisgemacht wird.
Die Grenzen überschritten
Zum Vergleich, nicht zur Gleichsetzung: Hitler annektierte seinerzeit Österreich, nach einem Pseudo-Plebiszit – wobei die Zustimmung in der «Ostmark» auch so peinlich hoch gewesen sein dürfte. Er griff sich das Sudetenland und machte den Rest Tschechiens zum «Reichsprotektorat Böhmen und Mähren». Aus Polen rissen die Nazis Filetstücke heraus und tauften sie Wartheland oder Danzig-Westpreussen. Im Westen holten sie Elsass-Lothringen heim ins Reich, dazu Luxemburg, im Südosten Teile Sloweniens.
«In der Kubakrise 1962 eröffnete die Regierung Kennedy dem Sowjetregime unter Chruschtschow diskret und in extremis eine ‹off ramp›, einen halbwegs gesichtswahrenden Ausgang.»
Vor Staatskriminalität solchen Ausmasses war Europa nach 1945 verschont geblieben. Die Grenzveränderungen nach der Zeitenwende von 1989, die Putin und die Seinen bis heute nicht verkraften können, ergaben sich vielmehr durch Zerfall, im vormals sowjetischen bzw. im jugoslawischen Raum (dort unglückseligerweise blutig). Deutschland einte, die Tschechoslowakei teilte sich.
Zypern 1974
Die einzige von ferne vergleichbare Nachkriegsepisode ist die Okkupation des nördlichen Teils von Zypern durch türkische Streitkräfte im Sommer 1974. Die Bestrebungen in der griechischsprachigen Bevölkerungsmehrheit nach einem Anschluss an das «Mutterland» (Enosis) alarmierte naturgemäss die türkischsprachige Minderheit.
Ankara setzte nach dem Handstreich die faktische Teilung der Insel und einen Bevölkerungsaustausch durch. Im Norden wurden Türken aus Anatolien angesiedelt und die türkische Armee bleibt präsent; der Satellitenstaat «Türkische Republik Nordzypern» wird nur von Ankara anerkannt. Dieser Konflikt blieb seiner geografischen Natur nach isoliert; die USA liessen seinerzeit die Türkei gewähren, weil sie als verlässlicherer Nato-Partner betrachtet wurde als Griechenland. Zudem hätte die griechische Seite mit kühlerem Kopf eine für beide Seiten gedeihlichere Entwicklung fördern können.
Andere nach dem Zweiten Weltkrieg noch eine Weile offene Grenzfragen wurden einvernehmlich gelöst, etwa betreffend Triest oder das Saarland.
Der Rückfall in überwunden geglaubte Verhaltensmuster begann 2014, als sich Putin in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Krim krallte, damals ohne auf ukrainische Gegenwehr zu stossen. Auch kaum auf westliche; man beliess es bei symbolischen Gesten und übte sich im Verdrängen.
Psychoterror mit Atombomben
Die aktuelle Annexion der ukrainischen Territorien nun, ungefähr die Fläche Portugals, lässt sich jedoch nicht mehr ad acta legen und beschweigen. Immerhin ist sie für Russland kein Triumph, schon gar nicht gemessen am offensichtlichen Kriegsziel: Die ganze Ukraine soll es sein. Nichts da mit einer glanzvollen Siegesparade auf den Kiewer Boulevards, unter dem Jubel der endlich Befreiten; die Vereinnahmung zerschossener Landstriche zu riesigen menschlichen und materiellen Opfern ist bloss noch schäbig.
Die Drohung, das gestohlene (wiewohl für den Dieb nur belastende) Land nun als heilige russische Erde zur Not auch nuklear zu verteidigen, ist der Gipfel der Perfidie. Man mache sich nichts vor: Putin ist ein skrupelloser Usurpator und unverfroren genug, um beispielsweise einen «Warnschuss» abzugeben: Eine taktische Atombombe über dünn besiedeltem Gebiet in der Ukraine oder über dem Schwarzen Meer zünden, im Kernkraftwerk Saporischschja einen Unfall inszenieren, der den Ukrainern in die Schuhe geschoben würde, in Sibirien einen Atombombentest durchführen. Derlei Winken mit dem Zaunpfahl kämen in erster Linie dann, wenn die Lieferung westlicher Waffen ans ungebärdige ukrainische Brudervolk dem Kreml weiterhin den Spass verderben sollte.
Wie könnte, würde der Westen, der eigentliche Adressat von Moskaus nuklearem Psychoterror, reagieren? Die USA – ohne die Europa sich als handlungsunfähig erweist, wie zuvor schon in der Jugoslawienkrise (aus Schweizer Sicht immer eine etwas wohlfeile Kritik) – wären in einer sehr heiklen Lage. Sie könnten nicht quasi Bombe mit Bombe vergelten. Allenfalls konventionell antworten? Cyberattacken fahren? Die russische Seefahrt, militärisch wie zivil, blockieren, ähnlich wie in der Kubakrise? Über der Ukraine eine Flugverbotszone durchsetzen? Gar atomar bestückte U-Boote dem Kommando der Regierung in Kiew unterstellen? Zur direkten, globalen Konfrontation zwischen der Nato und Russland fehlte dann nur noch beunruhigend wenig.
Anscheinend kein Interesse an einem «Deal»
Apropos Kubakrise: Damals, 1962, eröffnete die Regierung Kennedy dem Sowjetregime unter Chruschtschow diskret und in extremis eine «off ramp», einen halbwegs gesichtswahrenden Ausgang: Einige Monate nach dem Abzug der sowjetischen Raketen von der Insel verlegten die USA ihrerseits Raketen aus der Türkei. Offiziell gab es natürlich kein Quid pro quo (der Hollywood-Film «Thirteen Days» zeigt das übrigens packend). Wenig später wurde Chruschtschow gestürzt.
Gegenwärtig wirkt es nach aussen nicht so, als ob Putin für raffinierte Geheimdiplomatie überhaupt Gehör hätte; er scheint erst mal sein Blatt ausreizen zu wollen. Auch ist schwer zu sehen, wer denn in einem unvermeidlicherweise schmutzigen Deal allenfalls welche Gegenleistung anbieten möchte. Die Ukrainer schultern ungeheuren Aufwand für ihre Freiheit und werden sich nicht mit einem fragilen «Frieden» auf ihre Kosten abspeisen lassen.
Keine Diplomatie ohne Divisionen
Da kann beispielsweise ein deutscher Provinzpolitiker wie der sächsische Ministerpräsident Kretschmer noch lange blauäugig eine «beherzte Diplomatie» einfordern, wie neulich eben: Entschieden wird in Moskau, Kiew und Washington. In keiner westeuropäischen Hauptstadt, denn Diplomatie ohne Divisionen ist machtlos, das ist die ernüchternde und vielerorts gewiss unliebsame Lektion.
Das Risiko, dass sich der lose Verbündete China und der Rohstoffkäufer Indien im Fall einer atomaren Eskalation von ihm distanzieren würden, wird Putin zwar bekannt sein, doch was heisst das schon. Für den eng in die Weltwirtschaft verflochtenen Giganten China stehen enorme Interessen auf dem Spiel, aussen- und handelspolitisch, auch innenpolitisch. Das unausgesprochene Arrangement, dass die Kommunistische Partei im Gegenzug für die Achtung ihres Machtmonopols den Wohlstand des Volks mehrt, geriete ins Wanken. Die russische Elite hingegen, die über eine Volkswirtschaft gebietet, die deutlich kleiner ist als etwa die italienische, kümmert das in ihrem selbstbeschädigenden Furor überhaupt nicht.
Macht ist nicht an sich böse, wie der Basler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt glaubte. Aber manche Menschen schon, unheilbar. Wehe, wenn solche Gestalten Macht haben.
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Meinung – Der Ungeist ist aus der Flasche
Wo Europa im Osten ausfranst, macht sich blutige Staatskriminalität breit, wie in den verheerenden 1930er und 1940er Jahren. Nur hat der raffgierige Feldherr von heute Atombomben.