Aufgefallen in ChioggiaDie älteste Uhr der Welt
In einem Fischerort in der Nähe von Venedig steht die älteste noch funktionierende Turmuhr der Welt. Das Superlativ ist allerdings neu und einer Hobbyhistorikerin zu verdanken.

Die ganze Welt kennt Venedig, aber nur wenige kennen Chioggia. Das kleine Städtchen liegt rund 50 Kilometer entfernt am südlichen Ende der weltberühmten Lagune. Vieles erinnert an Venedig. Es gibt Kanäle – wenn auch nur drei –, zahlreiche Brücken, enge Calli (Gassen) und schöne säulengeschmückte Paläste. Alles ist überschaubarer und weniger pompös als in der berühmten Metropole. Chioggia ist die Nummer zwei unter den Lagunenstädten. Das Primat gehört Venedig, immer und in jedem Bereich. Wäre da nicht vor achtzehn Jahren eine italienische Hobbyhistorikern im Stadtarchiv auf ein Dokument gestossen, durch das der Fischerort etwas verspätet doch noch zu Weltruhm gelangt ist: Mitten im Stadtzentrum steht die älteste Turmuhr der Welt.
Marisa Addomine ist Ingenieurin und begeisterte Uhrenexpertin, ihr Spezialgebiet: Kirchturmuhren. 2004 wurde sie von einem lokalen Lehrer auf die Uhr des Turms neben der Kirche des Heiligen Andreas aufmerksam gemacht. Sie begab sich auf die Suche nach dem Ursprungsdatum des Uhrenmechanismus. Da es sich um ein grosses und damit teures Projekt handelt, nahm sie an, dass in der Stadtgeschichte Kauf- oder Verkaufquittungen vorhanden seien. Zu Recht. Im Stadtarchiv durchforstete sie Hunderte von Dokumenten und stiess auf mehrere Urkunden, welche die Uhr erwähnten und die zeitlich immer weiter zurückreichten. Am Ende gelangte Addomine an eine Schrift aus dem Jahr 1425, in der die Stadtverwaltung beklagte, dass die Uhr nicht mehr funktioniere. Damit stand fest, dass sie zu den ältesten noch funktionierenden Zeitmessern der Welt zählte.
Aber die Sensation kam erst noch. Denn sie fand eine Mahnung aus dem Januar des Jahres 1386. In ihr forderten die Buchhalter der Stadt den Rat auf, endlich die Rechnung für die Uhr zu begleichen. Damit stand fest, dass sie bereits davor fertiggestellt worden war – und die heutige Turmuhr von S. Andrea nachweislich die älteste auf der Welt ist.
Damit stiess die Kleinstadt an der venezianischen Lagune den bisherigen Rekordhalter vom Podest: das britische Salisbury. Denn in der Kathedrale der im südenglischen Bezirk Wiltshire gelegenen Stadt war bis anhin die älteste Uhr, die sich noch Betrieb befindet, zu besichtigen. Sie stand bis 1884 im Glockenturm der Kathedrale und ist auch im Guinness Buch der Rekorde verbürgt. Tatsächlich jedoch ist die Sachlage nicht hundertprozentig geklärt.
Auch die britische Uhr wird 1386 urkundlich erwähnt. Allerdings ist in dem Dokument nur davon die Rede, eine neue Uhr in Auftrag zu geben. Sie habe also zu jenem Zeitpunkt noch nicht existiert, argumentieren die Italiener. Während die ebenfalls 636 Jahre alte Zahlungsaufforderung in Chioggia sich logischerweise auf eine damals bereits vorhandene Uhr bezieht, denn sonst wäre keine Rechnung gestellt worden. Unsere Uhr ist älter, sagen sie. Die Verantwortlichen in Salisbury machten sich daraufhin auf die Suche nach neuen, noch älteren Dokumenten, die das Entstehungsdatum noch weiter zurückdatieren lassen. Von einem entsprechenden Sensationsfund ist aber bisher nichts bekannt.
Addomine räumt allerdings ihrerseits mit einer Legende auf: Häufig ist in Reiseführern über Chioggia zu lesen, dass der Uhrenmechanismus von dem unter Kennern bekannten Meister Giovanni Dondi hergestellt wurde. Es wäre der endgültige Ritterschlag für die lange übersehene Turmuhr. Aber Addomine kommt zum Schluss, dass das nicht stimmen kann.
Wer also Chioggia besucht, sollte einen Blick auf den dreissig Meter hohen Torre dell’Orologio di S. Andrea werfen. Ein schlichter romanischer Bau aus dem Zehnten Jahrhundert, der als Leucht- und Wachturm genutzt wurde. Er enthält ein «vertikales Museum», in dem auf sieben Stockwerken Karten und Exponate besichtigt werden können – und natürlich ganz oben das berühmte Uhrwerk.
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