In den vergangenen Jahren war viel darüber zu lesen, dass sich das weltweite Handelssystem verändert, nicht zuletzt wegen der zunehmenden Rivalität zwischen China und den USA. Die meiste Aufmerksamkeit bekamen dabei Trends wie das Friendshoring, das Nearshoring und das Reshoring von Lieferketten. Andere Verschiebungen im grenzüberschreitenden eurasischen Handel blieben dagegen weitgehend unbeachtet, obwohl sie sich auf die Wirksamkeit der westlichen Sanktionen gegen Russland auswirken.
Unter diese Sanktionen fallen Güter, die «zur Stärkung der industriellen Kapazitäten Russlands beitragen könnten», wie zum Beispiel Technologien für Quantencomputer, hoch moderne Halbleiter, Maschinen, Güter für den Verkehrssektor und chemische Stoffe. Ebenfalls betroffen sind Waffen, Güter für den Einsatz in der Ölindustrie und der Seeschifffahrt sowie Luxuswaren.
Manche Waren gelten als «teilweise» sanktioniert, weil die Liste der sanktionierten Güter nicht eins zu eins mit den insgesamt mehr als 6000 Produktcodes des Internationalen Warenverzeichnisses für den Aussenhandel (SITC) übereinstimmt. So fallen nur Waren ab einem bestimmten Wert – etwa ein Skianzug, der mehr als 300 € kostet – oder nur manche Produkte innerhalb einer bestimmten Kategorie – etwa Schaumweine – unter die Sanktionen. (Champagner ist sanktioniert, Prosecco dagegen nicht, vermutlich weil angenommen wird, dass russische Oligarchen Ersteren lieber trinken als Letzteren.)
Eine Art eurasisches Karussell
Die Frage ist, ob Russland die westlichen Beschränkungen umgehen und an sanktionierte Güter herankommen kann. Einiges spricht dafür, dass dies der Fall ist.
Es stimmt zwar, dass die Ausfuhr von Gütern aus der EU und dem Vereinigten Königreich nach Russland seit dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine 2022 mehr als die Hälfte geschrumpft ist und der Rückgang bei sanktionierten Waren 80% steiler ausgefallen ist als bei nicht sanktionierten Gütern. Gleichzeitig sind die Exporte aus der EU und dem Vereinigten Königreich nach Armenien, Kasachstan und Kirgisistan sehr stark gestiegen, besonders bei Waren, die unter die britischen und die europäischen Sanktionen gegen Russland fallen. Und diese drei Länder, die alle, ebenso wie Belarus und Russland, zur Eurasischen Zollunion gehören, führen inzwischen deutlich mehr Waren nach Russland aus als vor dem Krieg, namentlich Waren, die auf der Sanktionsliste stehen.

Obwohl diese Trends nicht beweisen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, legen sie die Vermutung nahe, dass manche sanktionierten Waren über eine Art eurasisches Karussell doch auf dem russischen Markt landen. Obwohl diese neuen eurasischen Warenflüsse derzeit nur 5 bis 10% der weggefallenen direkten Exporte aus der EU und dem Vereinigten Königreich ausmachen, nimmt dieser Anteil stetig zu und ist bei Dutzenden Produktfamilien bereits sehr hoch.
So hat beispielsweise der indirekte Handel über Eurasien bei Autos mit Verbrennungsmotor in den ersten Monaten der Sanktionen (Mai bis August 2022) bereits 58% des Rückgangs beim Direktexport ausgeglichen (Autos mit einem Wert über 50’000 € fallen unter die Sanktionen). Bei Computern übersteigen die indirekten Handelsflüsse sogar den Exportrückgang.
Umleitung auch via China und die Türkei
Ausserdem gibt es im eurasischen Handel einen merklichen Anstieg bei Waren, die sanktionierten Gütern ähneln. Das könnte darauf hinweisen, dass einige Sendungen absichtlich falsch klassifiziert werden, um die Sanktionen zu umgehen – eine Praxis, die auch oft zu Vermeidung von Zollgebühren genutzt wird. So könnte man zum Beispiel ein Röntgengerät für die Industrie, das unter die Sanktionen fällt, als Röntgengerät für die Zahnmedizin ausweisen, das ohne Einschränkungen ausgeführt werden darf. Die Ausfuhr von Pumpen und Kompressoren, von denen nicht alle auf der Sanktionsliste stehen, nach Zentralasien hat erheblich zugenommen.
«Wenn die Länder, die die Sanktion eingeführt haben, Druck auf ein Transitland machen, findet sich schnell eine andere Route, auf der die Beschränkungen umgangen werden können.»
Der Handel zwischen Europa und Russland wird vermutlich auch durch andere Länder umgeleitet. So werden aus China und der Türkei seit vergangenem Sommer deutlich mehr Waren nach Russland ausgeführt als vorher, auch solche, die vom Westen sanktioniert wurden. Während die Ausfuhr von Diesel-Lkw nach Russland 102 Mio. $ gesunken ist, lag der chinesische Export solcher Fahrzeuge nach Russland im Zeitraum Mai bis August 2022 um 362 Mio. $ über den Mittelwerten von 2017 bis 2021 für den gleichen Zeitraum. Ähnliche Trends zeigen sich bei anderen schweren Maschinen.

Die Direktexporte aus der EU und dem Vereinigten Königreich nach Russland sind deutlich zurückgegangen, und dies zeigt, dass die Sanktionen in gewissem Umfang wirken. Weil sie manchmal den eigenen Interessen zuwiderlaufen, lassen sich Exportsanktionen jedoch nie zu 100% durchsetzen. Die beteiligten Regierungen wollen, dass alle andere die Regeln strikt einhalten, sind selbst jedoch oft weniger streng, wenn es einheimische Unternehmen betrifft – ein Phänomen, das aus dem Kalten Krieg bekannt ist. Gleichzeitig nutzen unbeteiligte Regierungen die Chance, ihre eigenen Exporte zu steigern.
Wenn die Länder, die die Sanktion eingeführt haben, Druck auf ein Transitland machen, findet sich schnell eine andere Route, auf der die Beschränkungen umgangen werden können. Die Schlussfolgerung ist klar: Keine Sanktionsregelung ist wasserdicht. Um die Wirksamkeit seiner Sanktionen zu erhöhen, muss der Westen Mechanismen entwickeln, die eine bessere Koordination ermöglichen.
Beata Javorcik ist Chefökonomin der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, Professorin der Wirtschaftswissenschaft an der Oxford University und Fellow des All Souls College. Copyright: Project Syndicate.
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Meinung – Die eurasischen Lecks in den westlichen Sanktionen gegen Russland
Die Exporte aus der EU und dem Vereinigten Königreich nach Armenien, Kasachstan und Kirgisistan sind auffällig gestiegen, besonders mit Waren, die nicht mehr nach Russland geliefert werden dürfen.