Vor einem Jahr hat der russische Machthaber Putin eine «spezielle Militäroperation» in der Ukraine angeordnet, die vorgeblich darauf abzielte, die Menschen im östlichen Donbass zu schützen und die «Entmilitarisierung und Entnazifizierung» des Landes zu gewährleisten. Mit diesem Schritt hat er aber auch einen Angriff auf die reiche Kultur seines eigenen Landes gestartet, die nun weltweit geschmäht wird.
Freilich ist der Verlust von beruflichen Perspektiven, Zukunftsplänen und internationalen Kontakten auf russischer Seite nicht mit den Verlusten gleichsetzen, die die von russischen Panzern und Bomben bedrohten Menschen in der Ukraine hinzunehmen haben. Dennoch werfen die Auswirkungen des Krieges auf die russische Kultur und Putins Kampagne gegen Kulturschaffende und Künstler grundsätzliche Fragen über die Zukunft einer der grössten Mächte der Welt auf.
Seit Beginn des Krieges warne ich davor, dass das «Canceln» russischer Kulturveranstaltungen und Austauschprogramme als Form der Kollektivbestrafung nach hinten losgehen könnte. Einerseits durch den damit verbundenen eingeschränkten Zugang zu Informationen über Putins Absichten und andererseits, weil damit Putins Behauptung, der Westen wolle Russland zerstören, vermeintlich Bestätigung findet. Allerdings könnte kein Aussenstehender den Menschen in Russland so viel Schaden zufügen, wie ihre eigene Regierung es tut.
«Diskreditierung der russischen Streitkräfte»
Natürlich sind wir nicht mehr in der Ära Stalin, als man damit rechnen musste, für Regimekritik in den Gulag gesteckt oder getötet zu werden. Allerdings sind Putins Kritiker bekannt dafür, urplötzlich zu erkranken – oder aus dem Fenster zu fallen. Selbst wenn es den Kritikern gelingt, einem derart endgültigen Schicksal zu entgehen, kann der öffentliche Widerstand gegen den Krieg in der Ukraine die Zerstörung des Kritikerlebens mit anderen Mitteln zur Folge haben.
«In mancher Hinsicht zeigt Putins Russland kulturell noch weniger Toleranz als Sowjetrussland unter Stalin.»
Ein Beispiel dafür ist die russische Poplegende Alla Pugatschowa, die in den Siebzigerjahren derartige Berühmtheit erlangt hatte, dass die Russen witzelten, «Leonid Breschnew war ein Politiker der Ära Pugatschowa». Nachdem die Künstlerin nun in den sozialen Medien geklagt hatte, dass russische Soldaten «für illusorische Ziele sterben, die unser Land zu einem Paria machen», wurde sie aus Radio und Fernsehen verbannt. Als eine andere russische Entertainment-Legende, der Rockmusiker Juri Schewtschuk, im Rahmen eines Konzerts einen Appell gegen den Krieg verkündete – und dabei erklärte, Heimat sei «nicht der Hintern des Präsidenten, den man fortlaufend küssen müsse» –, wurde er wegen «Diskreditierung der russischen Streitkräfte» zu einer Geldstrafe verurteilt, und anstehende Auftritte wurden abgesagt.
Zum Schweigen gebracht werden aber nicht nur Berühmtheiten. Als ich im Dezember in Moskau war, konnte ich persönlich beobachten, wie die Polizei Strassenmusiker festnahm, weil sie Schewtschuks Lied «Mutterland» sangen, in dem vor einer Rückkehr des KGB gewarnt wird und zu dem er auch eine Art Fortsetzung geschrieben hat, nämlich «Mutterland, komm nach Hause», in dem ein Ende des Krieges in der Ukraine gefordert wird.
«Ausländische Agenten»
Auch Comedians sind zur Zielscheibe des Regimes geworden. Kürzlich erklärte das russische Justizministerium Pugatschewas Ehemann Maxim Galkin zu einem «ausländischen Agenten», nachdem er gegen den Krieg aufgetreten war. Diese Registrierung als Agent wurde auch eingesetzt, um 262 unabhängige Medienunternehmen, mehr als 300 Beschäftigte von Printmedien und Aktivisten sowie Menschenrechtsorganisationen wie die Moskauer Helsinki-Gruppe und Memorial sowie Professoren an Universitäten wie der Moscow School of Social and Economic Sciences zu schikanieren oder zum Schweigen zu bringen.
In der Welt des Theaters wurde das Ehepaar Dmitri Nasarow und Olga Wassiljewa – beide vormals Schauspieler am geschichtsträchtigen Moskauer Kunsttheater – gefeuert, nachdem sie ihre Stimme gegen die Invasion erhoben hatten. Sämtliche Aufführungen mit der berühmten Schauspielerin Lija Achedschakowa vom Sovremennik- (Zeitgenössischen) Theater wurden abgesetzt.
Die Stücke von Boris Akunin, einem der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Russlands, werden zwar immer noch aufgeführt, doch sein Name wurde aufgrund seiner Kritik am Krieg von Plakaten und Spielplänen entfernt. Im Falle des führenden Theaterregisseurs Dmitri Krymow wurden ebenfalls sämtliche Namensnennungen in den von ihm inszenierten Stücken gestrichen und weitere Aufführungen verschoben.
«In einer schwierigen Zeit von Russland abgewendet»
Das Kulturministerium erachtet derartige Entscheidungen als «absolut logisch.» Die Bestraften hätten sich «in einer schwierigen Zeit von Russland abgewendet» und sich «öffentlich gegen seine reiche Kultur gestellt». In der Orwell’schen Dystopie, in die sich das heutige Russland verwandelt hat, kommt die Ablehnung eines Krieges bei gleichzeitigem kulturellen Engagement der Ablehnung von Kultur gleich. Hier hat man es mit einer Kunst ohne Künstler zu tun, und Kreml-Kritiker sind zwar am Leben, haben aber keines.
In mancher Hinsicht zeigt Putins Russland kulturell noch weniger Toleranz als Sowjetrussland unter Stalin. Ein Beispiel dafür ist die jüngst vollzogene Absetzung der Leiterin der Tretjakow-Galerie, Selfira Tregulowa. Angeblich hat sich ein Bürger namens Sergei beim Kulturministerium beschwert, dass die Ausstellung, die er in der Tretjakow-Galerie besucht hatte, «nicht in vollem Umfang» der staatlichen Politik «zur Erhaltung und Stärkung der traditionellen geistigen und moralischen Werte Russlands» entspreche.
Von Darstellungen mit «Trinkgelagen» bis hin zur «Präsenz marginalisierter sozialer Elemente» sah Sergei – bei dem es sich durchaus auch um eine Erfindung des Kremls handeln könnte – Anzeichen einer «destruktiven Ideologie», die in ihm Gefühle des Pessimismus und der Hoffnungslosigkeit hervorrufe. Tregulowa wurde aufgefordert, die Übereinstimmung der Ausstellung mit den geistigen und moralischen Werten Russlands zu bestätigen. Obwohl Tregulowa keine Kritikerin Putins oder seines Krieges ist, wurde die von ihr präsentierte Erklärung wohl eindeutig als unzureichend angesehen, denn sie wurde unter dem Vorwand, ihr Vertrag sei ausgelaufen, entlassen.
Tief gesunken
In der Stalin-Ära wurde massenhaft «glückselige Sowjetpropaganda» verbreitet: Während die Menschen auf den Kolchosen verhungerten, malten Künstler Szenen des Überflusses. Nach Stalin wurde die staatliche Kontrolle über die Kunst etwas gelockert. So brachte das Moskauer Taganka-Theater Ende der Sechziger- und in den Siebzigerjahren mehrere Produktionen auf die Bühne, die die Behörden verärgerten und die sogar verboten wurden, doch der verantwortliche Regisseur Juri Ljubimow konnte seine Arbeit in Moskau bis 1984 fortsetzen.
Freilich war die Sowjetunion wohl kaum ein Hort künstlerischer Freiheit. Ljubimow wurde letztlich die Staatsbürgerschaft entzogen, weswegen er gezwungen war, anderen Künstlern wie Alexander Solschenizyn und Joseph Brodsky ins Exil zu folgen. Doch wenn Putin so hart gegen die Kultur vorgeht wie die Sowjets, dann ist Russland wirklich tief gesunken.
Die bolschewistische Geheimpolizei übte ihre tödliche Kontrolle über die Gesellschaft zumindest mit dem Ziel aus, das rückständige Russland der Zarenzeit in eine industrialisierte Zukunft – und in einigen Bereichen sogar in das technologische Spitzenfeld – zu führen. Immerhin war Russland das erste Land, das zunächst einen Satelliten und später einen Menschen ins All schoss. Im Gegensatz dazu wird Putins scharfes Vorgehen im Kulturbereich nur dazu führen, Russland in seine finstere Vergangenheit zurückzuwerfen.
Nina L. Chruschtschowa ist Professorin für Internationale Angelegenheiten an der New School, New York City. Copyright: Project Syndicate.
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Meinung – Die russische Kultur im Gulag
Putins scharfes Vorgehen gegen auch nur leiseste Kritik aus der Kulturszene wirft Russland in seine finstere Vergangenheit zurück.