In letzter Zeit wird bei Freiheitseinschränkungen vermehrt mit dem Konzept der «negativen externen Effekte» argumentiert. Die Freiheit des einen ende dort, wo die Freiheit des anderen beginne. Deshalb müssten negative Auswirkungen auf andere strikte unterbunden werden. Diese Denkweise ebnet den roten Teppich für den Totalitarismus.
Aus dem Bewusstsein, dass jeder Mensch über eine Würde verfügt, ergeben sich Grundrechte, die im Kern Abwehrrechte gegen äussere Eingriffe sind. Jeder Mensch soll sein Leben nach seinem Willen gestalten dürfen. Das ist der Kerngehalt der Grundrechte, für dessen Einhaltung ein Staat errichtet wurde.
Der Staat, wie wir ihn heute kennen, tut aber weit mehr als das: Er setzt sich regelmässig über diese Grundrechte hinweg. Die Entmündigungsquote steigt auf Rekordhöhen, obwohl es doch Aufgabe des Staates gewesen wäre, diese Quote nahe bei null zu halten. Diese staatlichen Grundrechtsverletzungen werden mit immer neuen Begründungen initiiert und forciert.
Schutz wird absolut gesetzt
Heute behaupten die Grundrechtsverletzer zwar meist nicht mehr, ein «Paradies auf Erden» zu schaffen, wie seinerzeit die Sozialisten, sondern sie behaupten, dass Freiheitseingriffe nötig seien, um tatsächliche oder vermeintliche Katastrophen abzuwenden. Diese Gefahren werden zum Anlass genommen, bestimmte Werte wie etwa den Gesundheitsschutz oder den Klimaschutz absolut zu setzen und über Freiheitsrechte und die Menschenwürde zu stellen.
«Eine offene Gesellschaft muss ‹negative externe Effekte› in Kauf nehmen, wenn sie weiterhin frei sein will.»
Das zentrale Argument für diese Grundrechtsrelativierung sind die sogenannten negativen externen Effekte. Die Freiheit des einen, mit anderen Leuten Kontakt zu haben, kann dazu führen, dass er auf sie ein Virus überträgt. Die Freiheit des einen, Auto zu fahren und CO₂ auszustossen, führt evtl. dazu, dass sich das Klima erwärmt, womit andere die Auswirkungen eines milderen Klimas zu spüren bekämen.
Oftmals wird nun behauptet, dass die Freiheit des einen dort ende, wo sie die Freiheit anderer bedrohe. Das ist als allgemeines Prinzip natürlich richtig. Das Problem, das wir hier haben, ist das folgende: Die Schwelle, an der die freie Lebensgestaltung des einen der freien Lebensgestaltung des anderen in die Quere kommt und nicht mehr erlaubt sein soll, ist nicht von vornherein konkret festgelegt. Es stellt sich die Frage, wie stark das Handeln des Einzelnen eingeschränkt werden darf, damit diese Einschränkung der individuellen Freiheit letztlich nicht mehr Schaden verursacht als die vermeintliche oder die tatsächliche Schädigung anderer.
Moderner Ablasshandel mit Zertifikaten
Eine offene Gesellschaft degeneriert umso stärker in Totalitarismus, je enger diese Grenze gezogen wird. Denn je kleiner der Spielraum für den Einzelnen wird, desto unfreier wird die Gesellschaft als Ganze. Eine offene Gesellschaft muss also «negative externe Effekte» in Kauf nehmen, wenn sie weiterhin frei sein will. Allfällige Schädigungen gilt es dann, wenn immer möglich, privatrechtlich abzugelten. Wenn also jemand nachweisen kann, dass er von jemandem konkret in seinem Eigentum geschädigt wurde, so hat er einen rechtlich einklagbaren Anspruch auf Schadenersatz.
Wichtig ist auch, dass die Beweislast aufseiten der vermeintlich Geschädigten liegt. Dies entspricht dem wichtigen juristischen Prinzip «in dubio pro reo», also im Zweifel für den Angeklagten. Es kann nicht angehen, alle Menschen bei allem, was sie tun, unter Generalverdacht zu stellen und damit die Beweislast umzukehren. Es ist in einer offenen Gesellschaft schlichtweg unpraktikabel, wenn alle ständig ihre Unschuld beweisen müssen, z.B. dass ein Autofahrer nun nicht für einen potenziellen Anstieg des Meeresspiegels in hundert Jahren verantwortlich ist oder dass man nicht für die Ansteckung eines anderen mit einem Virus verantwortlich war. Wie will man so etwas auch beweisen?
In letzter Zeit bietet die Politik den Pauschalangeklagten – also uns allen – eine Art modernen Ablasshandel an: Von der Schuld und dem Generalverdacht könne man sich befreien, indem man ein Zertifikat wie etwa eine Impfbescheinigung erlange. Vorstellbar und teilweise in der Pipeline sind auch ein allgemeiner Gesundheitspass, ein Impfpass, ein Nachhaltigkeitspass oder ein Sozialpass. Wie das in der Praxis dann aussehen könnte, zeigt das soziale Kreditsystem in China, bei dem man Punkteabzüge erhält, wenn man sich nicht so verhält, wie die Regierung es will, worauf man z.B. nicht mehr mit bestimmten öffentlichen Verkehrsmitteln reisen oder seine Kinder nicht mehr in eine anständige Schule schicken darf. Doch mit der Einführung solcher Zertifikate und Pässe werden die Grundrechte abgeschafft. Die Gewährleistung von Grundrechten hängt damit von einer Genehmigung durch eine Elite ab, die diese Genehmigung auch verweigern kann, wenn man sich nicht so verhält, wie die politischen Herrscher das wollen.
Nicht objektiv messbar
«Negative externe Effekte» sind ausserdem unmöglich objektiv messbar. Das beginnt schon damit, dass es eine Wertungsfrage ist, was als negativ und was als positiv wahrgenommen wird. Nehmen wir beispielsweise die Klimaerwärmung: Für jemanden, der ein Haus direkt am Wasser hat, dürfte ein steigender Meeresspiegel natürlich suboptimal sein. Für einen Landwirt in Sibirien mag eine Erwärmung des Klimas wiederum positiv sein, weil die Ernte ergiebiger werden dürfte. Ausserdem sterben heute sechzehnmal mehr Menschen an extremer Kälte als an extremer Hitze und sind zur Bewältigung von Energiekrisen auf milde Winter angewiesen. Woher wollen wir nun wissen, ob beim CO₂-Ausstoss ein positiver oder ein negativer externer Effekt vorliegt? Auf der Basis von vermeintlichen externen Effekten Steuern einzuführen (also das Grundrecht des geschützten Eigentums zu verletzen) und Zwangsinterventionen vorzunehmen, ist ein Akt der reinen Willkür.
Ausserdem werden die «externen negativen Effekte» der Zwangsmassnahmen selbst ironischerweise vergessen. Die Intervenierenden fragen sich kaum je, ob Lockdowns, Kontaktverbote und aufgenötigte Impfungen mehr Leben zerstören, als sie retten, indem z.B. Leute an Depressionen erkranken, lebensrettende Operationen verschoben werden müssen oder schwere Impfschäden auftreten. Sie tun einfach so, als gäbe es diese Effekte gar nicht.
Für die Herrscher an den politischen Schalthebeln der Macht bieten «negative externe Effekte» eine ideale Rechtfertigung ihres Treibens, solange die Bürger dieses Spiel nicht durchschauen. Wenn wir nicht aufpassen, wird uns unsere Freiheit immer stärker genommen, während man uns einredet, dass dies angeblich in unserem Interesse und zu unserem Schutz sei.
Olivier Kessler ist Direktor des Liberalen Instituts in Zürich.
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Meinung – Die sonderbaren Rechtfertigungen der Grundrechtsverletzer
Für die Staatsmacht bietet das Argument der «negativen externen Effekte» eine ideale Begründung für immer noch mehr Interventionen. Das gefährdet die Freiheit aller.