Der Zinssteigerungszyklus der Zentralbanken ist in vollem Gange. Angesichts der extrem hohen Inflation der Güterpreise haben die Geldpolitiker die Kreditkosten schnell und merklich verteuert. So betrug der Leitzins in den USA im März 2022 noch null Prozent, bis Ende Januar 2023 wurde er auf 4,5–4,75% angehoben. Der Leitzins der Europäischen Zentralbank (EZB) lag im Sommer 2022 noch auf der Nulllinie, im Januar 2023 stand er bei 3%. Auch viele andere westliche Zentralbanken zogen die Zinsschraube in kurzer Zeit stark an – wie die Bank von England, die Schwedische Reichsbank, die Dänische Nationalbank, die Schweizerische Nationalbank.
In historischer Betrachtung sind die Leitzinsen in allen Währungsräumen aber immer noch relativ niedrig. Vor allem die realen Zinsen – das heisst Nominalzinsen abzüglich der Konsumgüterpreisinflation – lagen Anfang 2023 noch deutlich unter der Nulllinie: in USA bei etwa –1,8%, im Euroraum bei –5,5%, im Vereinigten Königreich –6,1%, Schweden –7,2%, Dänemark –5,5%, Schweiz –2,3%. So gesehen ist die Geldpolitik nach wie vor alles andere als «strikt» – und daher scheint es verständlich zu sein, dass die US-Zentralbank (Fed) und die EZB unmissverständlich angekündigt haben, sie wollten mit den Zinserhöhungen weitermachen.
Dabei haben Zentralbankräte vermutlich vor allem die gegenwärtig sehr hohe Inflation der Konsumgüterpreise vor Augen: In den USA lag sie im Januar bei 6,4%, im Euroraum bei 8,5%. Doch die Zinssetzung an der aktuellen Inflation auszurichten, ist alles andere als unproblematisch. Denn die Geldpolitik wirkt mit zeitlicher Verzögerung auf die Entwicklung der Güterpreise, und zudem hat die aktuelle Inflation keinen eindeutigen Bezug zur künftigen Inflation. In der geldpolitischen Theorie empfiehlt man daher den Geldpolitikern, ihre Entscheidungen an «Regeln» auszurichten. Dazu zählt beispielsweise die «Taylor-Regel».
Geldmengenüberhang geschaffen
Ihr zufolge ist der Leitzins zu setzen, vereinfacht gesagt, in Abhängigkeit der Konjunkturlage und der Abweichung beim Inflationsziel. Allerdings stellen sich bei der Anwendung der Taylor-Regel viele Probleme ein. Beispielsweise muss man das potenzielle Wachstum der Volkswirtschaft und auch den «Gleichgewichtszins» schätzen. Das aber ist mit grosser Unsicherheit behaftet. Eine andere Empfehlung in der geldpolitischen Theorie lautet, die Zentralbankräte sollten ihre Entscheidung mit Blick auf ein «Zwischenziel» treffen, dessen Veränderung einen zeitlichen Vorlauf gegenüber der künftigen Inflation hat, das die Eigenschaft eines vorlaufenden Indikators hat. Dafür bieten sich besonders Geldmengenaggregate an.
«Die Zentralbankräte täten gut daran, mit weiteren Zinserhöhungen zu pausieren, um erst mal die Wirkung der erfolgten Zinserhöhungen abzuwarten.»
Die dieser Empfehlung zugrundeliegende Idee hat der amerikanische Ökonom Milton Friedman (1912–2006) prägnant gefasst: «Inflation ist immer und überall ein monetäres Phänomen.» Eine ökonomisch plausible – wenn auch heutzutage in Fachkreisen nicht gerade beliebte und akzeptierte – Schlussfolgerung: Steigt die Geldmenge in den Händen der Marktakteure und bleibt ihre Geldnachfrage tendenziell unverändert, werden früher oder später auch die Güterpreise in die Höhe klettern. Doch ein Blick auf die jüngste Datenlage scheint diese These zu unterstreichen.
Von Ende 2019 bis Anfang 2023 hat das Fed die Geldmenge M2 etwa 40% erhöht, die EZB die Geldmenge M3 um 25%. Weil aber das Güterangebot damit nicht Schritt gehalten hat, baute sich ein gewaltiger «Geldmengenüberhang» auf. Er trifft nun auf gewaltige «Kostenschubeffekte» – die vor allem von den Folgen der Lockdowns und der politisch verursachten Energieverteuerung rühren – und entlädt sich so in besonders stark steigender Güterpreisinflation.
Wie eine Vollbremsung
Durch die erhöhten Güterpreise und das wieder erhöhte Güterangebot bildet sich der Geldmengenüberhang jedoch mittlerweile zurück. In den USA beträgt er schätzungsweise noch 9%. Zeigt er seine inflationäre Wirkung über, sagen wir, die kommenden zwei Jahre, so würde das einen Preisauftrieb von ungefähr 4,5% pro Jahr bedeuten. Im Euroraum beträgt der Geldmengenüberhang etwa 10%; dementsprechend ist auch hier mit anhaltend erhöhter Güterpreisinflation zu rechnen. Doch dieses Inflationspotenzial trifft auf Gegenkräfte.
Die US-Geldmenge ging im Dezember 2022 um 1,4% gegenüber dem Vorjahr zurück. Angesichts der aktuellen Konsumgüterpreisinflation bedeutet das eine Kontraktion der realen Geldmenge von 7,3% gegenüber dem Vorjahr. Das heisst: Die Kaufkraft der Konsumenten und Produzenten verringert sich so stark wie zuletzt in den frühen 1980er-Jahren, in denen es eine schwere Rezession gab. Die Beobachtung, dass die reale Geldmenge schrumpft, lässt sich derzeit übrigens in der gesamten OECD machen. Hier geht die reale Geldmenge so stark zurück wie noch nie seit Anfang der 1980er-Jahre – getrieben durch ein Abflauen des Geldmengenwachstums, verbunden mit sehr hoher Konsumgüterpreisinflation.
Das Schrumpfen der realen Geldmenge wirkt konjunkturell ähnlich einer Vollbremsung: Konsumenten und Produzenten müssen ihre Nachfrage nach Gütern tendenziell einschränken. Weil die reale Geldmenge derzeit so stark abnimmt wie nie zuvor, sind sogar Sorgen vor Rezession berechtigt. Vor allem aber spricht der Rückgang der realen Geldmenge auch für einen künftig deutlich rückläufigen Inflationstrend: Eine rückläufige reale Geldmenge deutet auf ein fallendes Wachstum des Güterangebots und/oder fallende Güterpreise. Man gelangt zur Schlussfolgerung: Die Zentralbankräte täten gut daran, mit weiteren Zinserhöhungen zu pausieren, um erst mal die Wirkung der erfolgten Zinserhöhungen abzuwarten.
Notenbanken in heikler Lage
Weitere Zinserhöhungen, die das Geldmengenwachstum zusätzlich reduzieren, bergen nämlich die Gefahr, die Volkswirtschaften in eine schwere Rezession zu lenken. Zweifelsohne eine schwierige Situation für die Notenbankräte. Sie wollen der Öffentlichkeit ja ihre Entschiedenheit demonstrieren, die aktuelle Hochinflation zu beenden – dabei besonders weitere Vertrauensverluste und Zweitrundeffekte (Lohn-Preis-Spiralen) verhindern. Aber genau dadurch steigt das Risiko, dass die Geldpolitiker die Zinsen letztlich doch zu stark anziehen und den Volkswirtschaften eine sehr harte Landung bescheren.
Denn die weltweite Verschuldung der Volkswirtschaften ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen, und sie wurde finanziert in einem Umfeld extrem niedriger Kreditkosten; das gilt vor allem für die immense Staatsverschuldung. Das Institute for International Finance schätzt, dass die weltweite Verschuldung im dritten Quartal 2022 sich auf 290 Bio. $ belief, das waren etwa 343% der weltweiten Wirtschaftsleistung. Zum Vergleich: Ende 2019 lag die Verschuldung noch bei 246 Bio. $, die Verschuldungsquote bei 320%.
Es ist also leicht, einzusehen, dass eine neue Wirtschafts- und Finanzkrise, ausgelöst durch zu hohe Leitzinsen der Zentralbanken, durch die finanziell stark überdehnte Schuldner – allen voran die Staaten – ins Straucheln geraten, sehr schwerwiegende wirtschaftliche und auch politische Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Es ist daher zu hoffen, dass die Zentralbankräte die Problematik, die von zu hohen Leitzinsen ausgehen, im Auge haben, dass sie also bei ihren geldpolitischen Entscheidungen die Entwicklung der Geldmengen – vor allem auch der realen Geldmengen – gebührend berücksichtigen.
Thorsten Polleit ist Honorarprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth und Präsident des Ludwig von Mises Institut Deutschland.
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Meinung – Die übersehene Rezessionsgefahr
Weitere Zinserhöhungen, die das Geldmengenwachstum zusätzlich bremsen, könnten eine schwere Rezession auslösen, vor allem weil viele Staaten überschuldet sind.