US-Präsident Joe Biden steckt im ersten grossen Skandal seiner Amtszeit. Fünf geheime Regierungsdokumente aus seiner Zeit als Vizepräsident unter Barack Obama wurden u.a. in seinem Privathaus in Delaware gefunden. Eines davon ist absurderweise in der Garage neben seiner Corvette aufgetaucht. Das US-Justizdepartement (DoJ) hat einen Sonderermittler eingesetzt, der vergangene Woche Bidens Haus hat durchsuchen lassen.
Dass ein Regierungsmitglied Geheimdokumente mitgehen lässt, ist ein absolutes No Go, und Washington muss sicherstellen, dass so etwas in Zukunft verhindert wird. Dass Biden daraus politisch nachhaltiger Schaden entsteht, ist allerdings zu bezweifeln. Denn zum einen gibt es verschiedene Stufen der Vertraulichkeit. In den USA werden oft die langweiligsten Dokumente prophylaktisch mit der untersten Vertraulichkeitsstufe versehen. Die Chance ist deshalb gross, dass Bidens Papiere wenig Spannendes enthalten.
Zum Zweiten kann der Skandal durch die Republikaner nicht wirklich ausgeschlachtet werden. Denn Bidens republikanischer Vorgänger Donald Trump hat gerade die gleiche Affäre am Hals – nur viel schlimmer. Trump liess einst kistenweise Geheimpapiere in sein Privatanwesen schaffen. Während Biden die Dokumente selbst gemeldet hat, wehrte sich Trump gegen die Herausgabe, sodass das FBI zur Razzia anrücken musste. Biden hat die Behörden dagegen um die Durchsuchung seines Hauses gebeten. Trump hat ebenfalls einen Sonderermittler am Hals, der obendrein wegen versuchten Wahlbetrugs und Staatsstreichs ermittelt.
Zum Dritten nimmt man es Biden ab, wenn er sagt, die Dokumente seien während des hektischen Auszugs der Obama-Regierung versehentlich eingepackt worden – schliesslich spricht hier ein schusselig wirkender alter Mann. Genau das ist der eigentliche Grund, weshalb die Wähler ihm eine zweite Amtszeit verwehren dürften. Biden ist der erste Achtzigjährige im Amt des US-Präsidenten. Das wird bei jedem öffentlichen Auftritt fast schmerzhaft bewusst.
Republikanische Chaostruppe
Es wird erwartet, dass Biden in den kommenden Wochen bekanntgeben wird, ob er 2024 nochmals zur Wahl antritt oder nicht. Letzteres ist ihm streng zu raten. Selbst seinen Vertrauten muss schon vor der Vorstellung einer Wahldebatte grauen, in der Biden gegen einen wortgewandten, jungen republikanischen Herausforderer antritt. Ein jüngerer, mitreissender demokratischer Kandidat hätte da bessere Chancen. Der kann nur schon auf den bitteren Konflikt innerhalb der Republikanischen Partei verweisen.
Weil sie unter dem Einfluss Trumps in den Parlamentswahlen Ende 2022 in entscheidenden Wahlkreisen viel zu radikale Kandidaten aufgestellt hatten, haben die Republikaner nun nur eine knappe Mehrheit in bloss einer der beiden Kongresskammern. Die dortige republikanische Fraktion wird jetzt von einer kleinen Gruppe von Verschwörungstheoretikern und Demokratiefeinden vor sich hergetrieben. Diese will die anstehenden Verhandlungen über die Erhöhung der Schuldengrenze eskalieren lassen. Gerade wegen der prekären Mehrheitsverhältnisse braucht es aber auch nur eine Handvoll moderater Republikaner, die zusammen mit den Demokraten die Schuldengrenze erhöhen und so eine Zahlungsunfähigkeit der USA verhindern.
Bidens politisches Vermächtnis wird daran keinesfalls scheitern. Das ist bereits derart ansehnlich, dass er getrost nach einer Amtszeit abtreten kann. Biden hat die US-Truppen aus dem endlos scheinenden Afghanistankrieg abgezogen. Unter ihm hat das Land nach der Covid-Pandemie zur Normalität zurückgefunden. Die Inflation scheint dank den Zinserhöhungen der US-Notenbank auf einem nachhaltigen Rückzug zu sein, und unter keinem anderen Präsidenten hat das Land bisher einen derartigen Job- und Lohn-Boom erlebt.
«Der Geist des Trump’schen ‹America first› lässt sich nicht mehr in die Flasche pressen.»
Zudem hat Biden es tatsächlich geschafft, nach anfänglichen Rückschlägen und trotz nur hauchdünner Kongressmehrheit das grösste Klimagesetz der amerikanischen Geschichte durchzubringen. Damit hat er eine potenzielle Verlagerung von Produktionsstätten und Tausenden Stellen nach Amerika angestossen. Mit seiner milliardenschweren Unterstützung der Ukraine konnte er zudem den Westen einen im Angesicht des nun langsam dahinsiechenden Putin-Regimes.
Vor diesem Hintergrund hat Biden einen entscheidenden Politikwechsel seines Vorgängers nicht nur intakt gelassen, sondern sogar weitergesponnen. Er hat die Strafzölle gegen China nicht aufgehoben, sondern die mörderische Diktatur in Peking offiziell zum Gegner Nummer eins erklärt und einen weltweiten Lieferstopp für essenzielle Mikrochips gegen die Volksrepublik erlassen. Weitere Massnahmen aus dem Weissen Haus dürften folgen. Angesichts dessen hat man mit China fast Mitleid, denn hier stehen sich nicht zwei Weltmächte auf Augenhöhe gegenüber.
China ist ein Riese auf tönernen Füssen, mit einer inkompetenten Führung; die Bevölkerungszahl wird aufgrund der fatalen Einkindpolitik kollabieren. Technisches Know-how und Innovation muss das Land seit jeher importieren, ebenso wie die meisten Inputfaktoren seiner Landwirtschaft. Ohne den Rest der Welt und die USA werden die Chinesen noch nicht einmal satt. In den folgenden Jahren wird es der Welt vollends dämmern: Hier erhebt sich nicht die neue Weltmacht, sondern geht – frei nach Helmut Schmidt – «Obervolta mit Atomraketen» zugrunde.
Unabhängig und übermächtig
Dagegen brauchen die USA den Rest der Welt so wenig wie selten zuvor in ihrer Geschichte. Darüber müssen sich Europa und die Schweiz, für die die USA mittlerweile der wichtigste Exportmarkt sind, im Klaren sein. Amerika ist selbstversorgend mit Energie und Nahrung, hat die innovativsten Unternehmen und die grössten Finanzmärkte mit dem Dollar als Welthandels- und Reservewährung.
Im Kern wird die grösste Volkswirtschaft des Planeten angetrieben von der eigenen konsumfreudigen Bevölkerung, zu der jedes Unternehmen der Welt Zugang haben will. Tatsächlich sind die USA unter den entwickelten Ökonomien diejenige, die am wenigsten vom globalen Handel abhängig ist. Zementiert wird diese übermächtige Stellung von einem Militär, das es mit den nächststärksten Armeen gleichzeitig aufnehmen kann.
So konnten die USA es sich leisten, in den vergangenen Jahren isolationistischer und egoistischer zu werden. Der Geist des Trump’schen «America first» lässt sich nicht mehr in die Flasche pressen. Von diesem Land bekommt man nur etwas, wenn man im Gegenzug etwas zu bieten hat. Freihandelsabkommen (FHA) unterhält Washington bloss mit einer Handvoll Länder, aus denen es – wie im Fall Australien – wichtige Rohstoffe bezieht oder wenn es – wie eigentlich nur im Fall Mexiko – tatsächlich nennenswerten Handel treibt. Das Nachbarland im Süden wird langfristig China als verlängerte Werkbank ersetzen. Die Mexikaner produzieren für Amerika heute schon effizienter als die Chinesen.
Das bedeutet aber leider auch: Ein FHA mit den USA, wie die Schweiz es sich wünscht, wird sie wohl schlicht nicht bekommen. Die EU und Europa überhaupt müssen sich auch bewusst sein: Diese USA werden den Ukrainekrieg nicht endlos allein weiterfinanzieren. Vor allem Deutschland ist gut beraten, in diesem Krieg vor der eigenen Haustür den Beitrag zu leisten, der von der grössten Volkswirtschaft des Kontinents zu Recht erwartet werden kann.
Bis heute ist Amerika Garant für Stabilität in Europa und der Welt, doch die anhaltende Pax Americana gibt es für niemanden umsonst, das hat Biden – wenn auch diplomatischer als Trump – klargemacht. So kann sich der alte Mann im Weissen Haus guten Gewissens 2024 zurückziehen. Ein letzter Streich Bidens könnte sein – ohne den Druck einer Wiederwahlkampagne –, den Brückenschlag zu moderaten Republikanern zu suchen und die dringend nötige Einwanderungsreform zustande zu bringen. Die ist für die Zukunft Amerikas allemal entscheidender als vermeintliche Geheimpapiere neben der Corvette in Delaware.
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Meinung – Die Welt braucht Amerika – nicht umgekehrt
Auch unter Präsident Biden sind die USA ein vergleichsweise selbtbezogenes Land. Aber genau deshalb tun die EU und auch die Schweiz gut daran, mit Beiträgen zu den bilateralen Beziehungen nicht zu geizen.