Es wird wohl nichts mit dem ersehnten Regime Change in Ankara. Um nichts Geringeres geht bzw. ging es in den türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, keineswegs bloss um einen routinemässigen Regierungswechsel. Mit dem in gefestigten Demokratien üblichen, selbstverständlich friedlichen Schwenk etwa von ein bisschen links zu ein wenig rechts hat dieses Votum nichts zu tun, viel dagegen mit der Schicksalsfrage Diktatur oder Demokratie.
Wird Recep Tayyip Erdogan in der Stichwahl am 28. Mai gegen den Herausforderer Kemal Kilicdaroglu bestätigt, was zu befürchten ist, liegt die Antwort auf der Hand: noch mehr Machtfülle in einer, seiner, Hand. Für Erdogan, 69 und müde wirkend, schon seit zwanzig Jahren an der Macht (zunächst als Ministerpräsident), ist genug nicht genug. Er wird sich, sofern nicht noch ein Wunder geschieht, in der Idée fixe seiner Unentbehrlichkeit bestätigt sehen. Und: Würde Kilicdaroglu wider Erwarten gewinnen – wer glaubte von einem Erdogan ernsthaft, dass dieser dann mit Grandezza seinen Riesenpalast räumte? Selbst wenn ja: Kilicadaroglu stünde einem feindlichen Parlament gegenüber.
Ein Fall für die Massenpsychologie
Immerhin darf etwas maliziös angenommen werden, dass Erdogan, bislang kaum durch Sinn für Humor und Selbstironie aufgefallen, tief gekränkt ist, dass ihm «sein» Volk einen zweiten Wahlgang aufzwingt. Das wird seinen Dauergroll nur noch befeuern. Was in der Türkei an Restbeständen halbwegs eigenständiger Institutionen und Medien übrig ist, dürfte unter einem «ewigen» Erdogan noch stärker unter Druck geraten, nationale und religiöse Minderheiten obendrein.
«Die im Westen ersehnte Entkrampfung des Verhältnisses zu Ankara ist wohl aufgeschoben.»
Verblüffend, dass immer noch gut die Hälfte des Volks in Treue fest an seiner Seite steht, trotz tiefer Wirtschaftskrise, hoher Schulden, rasender Inflation (Erdogan bestimmt die widersinnige Zinspolitik selbst), gemeingefährlichem Bauwesen (Erdbeben) und dem anstössigen Umstand, dass es Erdogan und den Seinen materiell an nichts mangelt. Alles in allem ein Mysterium der Massenpsychologie. Die Lehre für andere autoritär angesteckte politische Chefs ist die, dass das Spiel auf der Klaviatur von Ressentiments, hitzigem Nationalismus und Geschichtsüberhöhung verlässlich zum Ablenken von noch so handfesten Schwierigkeiten taugt.
Die Türkei ist zu gross, zu mächtig und geostrategisch zu delikat gelegen, als dass dem Westen diese bedenkliche Entwicklung gleichgültig sein könnte. Es sieht ganz danach aus, als ob die ersehnte Entkrampfung des Verhältnisses zu Ankara – aus Sicht der EU, der USA und der Nato – auf unbestimmte Zeit verschoben sei. Der Nato-Kandidat Schweden muss zuwarten und liebedienern, der verbal dauerbedrohte Nachbar Griechenland muss unablässig auf der Hut bleiben, das gequälte Armenien, eingeklemmt zwischen der Türkei und deren Turk-Cousin Aserbaidschan, muss wie gewohnt ums Überleben bangen und sich, ausgerechnet, auf russische Protektion verlassen. Ferner sind Impulse, die das grosse wirtschaftliche Potenzial der Türkei entfesseln könnten, von einem versteinerten Regime gewiss nicht zu erwarten.
Entwarnung für Putin
Kurz: Solange Erdogan lebt, ist politisch mit ihm zu rechnen, muss man also mit ihm leben. Ob, wann und wie er nach der aktuellen, für ihn demütigenden Prozedur – Nasenstüber statt Huldigung – überhaupt noch Wahlen riskieren wird? Zur Not kann er ja den Notstand ausrufen.
Einer wird sich die Hände reiben: das Schwarzmeer-Vis-à-vis Putin. Er und Erdogan sind Brüder im Ungeiste. Beide verkörpern die Strong-Man-Seuche, beide fahren mit Blick in den Rückspiegel: Der eine sieht das Zarenreich, der andere das osmanische Sultanat. Beide verachten den scheint’s dekadenten Westen (der ihnen allerdings Munition liefert; zu denken ist an den lästigen College-Kokolores, der Nordamerika und Europa befallen hat).
Bleibt Erdogan am Ruder, kann sich Moskau darauf verlassen, dass ein wichtiger Baustein in der westlichen Ukraine-Brandmauer weiterhin fehlen wird. Umgekehrt wäre ein Wandel in der Ukrainepolitik Ankaras ein schwerer Schlag. Erdogans voraussichtlicher Sieg ist auch ein Signal der Zuversicht an Donald Trump, dem der Segenseffekt der Gewaltenteilung ebenso fremd ist, oder an Ungarns «Viktator», Premier Viktor Orbán, den unsicheren Kantonisten in der EU und der Nato.
Ein Jahrhundert nach Atatürk
Wenn nicht alles täuscht, wird Erdogan am 29. Oktober das hundertjährige Bestehen der Republik Türkei als Protagonist feiern können. Seinerzeit hatte Mustafa Kemal Pascha, bekannt unter dem Ehrennamen Atatürk, den neuen Staat ausgerufen. Dieser war unter seiner Führung aus den Wirren des Ersten Weltkriegs und der Folgekonflikte hervorgegangen. Der letzte Sultan, Mehmed VI., war Ende 1922 aus dem Dolmabahçe-Palast in Istanbul geschasst worden. Die Grenzen der neuen Türkei waren im Juli 1923 im Frieden von Lausanne anerkannt worden.
Atatürk wählte das zentral gelegene Ankara, damals ein Nest, heute eine Millionenstadt, zur neuen Metropole, um den Epochenbruch zu unterstreichen. Er modernisierte, europäisierte, säkularisierte sein Land autoritär. Doch nur mit ziemlich genau halbem Erfolg, wie sich heute weist. Der kemalistische Kandidat Kilicdaroglu dürfte es kaum schaffen, etwas mehr als die Hälfte der Stimmen zu holen.
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Meinung – Erdogan – und kein Ende in Sicht
Die Türkei schafft die demokratische Wende wohl nicht. Noch mehr Erdogan heisst noch mehr Drangsalierung.