Ein oder auch zwei Mal kann es Zufall sein, aber spätestens beim vierten oder beim fünften Mal verfängt eine solche «Erklärung» nicht mehr, besonders wenn die Umstände so unterschiedlich sind. Die Rede ist hier von der bemerkenswerten Widerstandsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft gegen globale Schocks. In den vergangenen fünfzehn Jahren hat die Weltwirtschaft je nach Zählweise vier oder fünf schockartige Ereignisse erlebt, die in vielen Ländern zu teils massiven wirtschaftlichen Verwerfungen geführt haben. Zuerst kam die grosse Finanzkrise von 2007/08, unmittelbar danach die Eurokrise von 2010 bis 2012, wenige Jahre später die Pandemie von 2020/21 und jüngst die Kombination aus Ukrainekrieg und Energieknappheit verbunden mit dem ausgeprägten Inflationsanstieg.
Natürlich wurde die kleine offene Volkswirtschaft Schweiz von all diesen Schocks spürbar getroffen, aber wenn man die zentralen makroökonomischen Daten ansieht, dann war der Einbruch hierzulande in allen Fällen deutlich weniger ausgeprägt als in den allermeisten vergleichbaren Ländern. Die Rezessionen waren weniger tief, der Anstieg der Arbeitslosenrate geringer, das Preisniveau erwies sich als stabiler, und die Neuverschuldung war spürbar kleiner.
Sehr unterschiedliche Schocks
Diese Resilienz ist umso erstaunlicher, wenn man sich vor Augen führt, wie unterschiedlich diese makroökonomischen Verwerfungen waren. Nehmen wir die beiden besonders schweren der aktuelleren Schocks: Wie der Name schon sagt, entstand die grosse Finanzkrise aus Fehlentwicklungen im Finanzsektor, die in die Realwirtschaft überschwappten und sich rasch global verbreiteten. Die Pandemie hingegen war ein exogener Schock, der nicht aus wirtschaftlichen Fehlentwicklungen entstand, sondern eine Art Naturereignis war, das die gesamte globale Wirtschaft gleichzeitig traf.
Die Schweiz überstand beide Schocks besser als die meisten vergleichbaren Länder, aber die Quelle der Resilienz war sehr unterschiedlich. Der wirtschaftliche Einbruch 2009 wurde dadurch gemildert, dass anders als in anderen Ländern der Privatkonsum und der Bau – die beiden Hauptkomponenten der Inlandnachfrage – weiter positive Wachstumsraten aufwiesen. Die Resilienz während der Pandemie war ganz anders gelagert. Der Konsum konnte nicht stützen, da die Lockdowns ihn einschränkten, doch dafür wies die Schweiz im Krisenjahr 2020 einen deutlich positiven Aussenbeitrag auf; die Exporte schrumpften weniger als die Importe.
«Es gilt, die offensichtlich stabilisierenden wirtschaftspolitischen Institutionen zu pflegen und zu bewahren; sie haben sich in sehr unterschiedlichen Krisenkonstellationen bewährt.»
Nicht immer war die Schweizer Wirtschaft in der Vergangenheit so widerstandsfähig. Zu Beginn der Neunzigerjahre erlebte sie eine langjährig sehr schwache Wirtschaftsentwicklung, mit der sie im internationalen Vergleich negativ hervorstach. Die Neunzigerjahre waren hierzulande ganz sicher nicht durch besonders auffallende wirtschaftliche Resilienz gekennzeichnet. Das änderte sich etwa mit der Jahrtausendwende spürbar. Woher kommt also die im internationalen Vergleich bemerkenswerte Schockresistenz, wieso beobachten wir sie erst in den vergangenen beiden Jahrzehnten, und ist davon auszugehen, dass es so bleibt?
Das sind wichtige, aber auch ausserordentlich schwierige Fragen, die ich hier in erster Linie in den Raum stellen möchte ohne behaupten zu wollen, sie wirklich beantworten zu können. Sicher ist es eine Kombination von Faktoren wie der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, der Attraktivität des Standorts und der Rahmenbedingungen, auf die hier nicht alle eingegangen werden kann. Ich möchte mich hier auf die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen konzentrieren, die meines Erachtens wichtige Erklärungsfaktoren für die jüngst so bemerkenswerte Resilienz sind.
Zentrale wirtschaftspolitische Reformen
Die Schweiz hat natürlich seit langem sehr gute wirtschaftliche Rahmenbedingungen, wie etwa die Arbeitsmarktflexibilität, die politische Stabilität oder das hohe Bildungsniveau. Für die in jüngster Zeit deutlich höhere Schockresistenz besonders wichtig waren aber meines Erachtens grundlegende Reformen, die als Reaktion auf die wirtschaftlich schwierigen Neunzigerjahre unternommen wurden. Entscheidend waren dabei unter anderem drei Anpassungen Ende der Neunziger und zu Beginn der Nullerjahre.
Erstens die Einführung der Schuldenbremse. Sie hat nicht nur zu einer sehr niedrigen Schuldenquote geführt, was Vertrauen schafft und auch Handlungsspielraum bei starken Schocks. Für die Widerstandsfähigkeit ebenso relevant ist ihre Ausgestaltung als automatischer Stabilisator; die Schulden müssen nicht jedes Jahr, sondern über einen Konjunkturzyklus hinweg stabil sein. In Rezessionsjahren können also Schulden gemacht werden, was die Wirtschaft stimuliert, und in Booms müssen sie abgebaut werden, was die Dynamik bremst.
Zweitens die in der Schweiz sehr gut ausgebaute Arbeitslosenversicherung, die bei negativen Schocks eine substanzielle Abfederung bringt, was in einer Rezession den Einbruch der Nachfrage mildert. Gestärkt wurde die stabilisierende Wirkung durch Reformen, die die Arbeitslosenversicherung ebenfalls als automatischen Stabilisator ausgestaltet hat. Der Fonds der Versicherung muss, wie das Bundesbudget, nicht jedes Jahr, sondern über den Konjunkturzyklus hinweg ausgeglichen sein. Das erlaubt ebenfalls, in schlechten Zeiten mehr auszugeben und das daraus entstehende Defizit in guten Zeiten abzubauen. Stark stabilisierend hat hier in den jüngsten Krisen zudem das Instrument der Kurzarbeitsentschädigung gewirkt.
Drittens wurde mit den bilateralen Verträgen ein Weg gefunden, wie die Schweiz ausserhalb der EU und des EWR bleiben und dennoch eine enge wirtschaftliche Verflechtung mit ihren Nachbarn haben kann. Besonders die Personenfreizügigkeit kombiniert mit der grossen Attraktivität der Schweizer Wirtschaft hilft, bei negativen Schocks über die Stärkung der Nachfrage das Ausmass des Einbruchs zu begrenzen.
Kein übermässiger Aktivismus
Gute und stabilisierende Rahmenbedingungen sind sehr wichtig. Entscheidend ist aber auch, dass die politischen Entscheidungsträger ihren Spielraum in Krisensituation adäquat nutzen. Das ist natürlich sehr schwer zu messen, doch anekdotische Evidenz zeigt, dass die Schweizer Behörden in den jüngsten Krisen wohl überdurchschnittlich effektiv agiert haben. Verhältnismässig erfolgreiche, stark stabilisierende Aktionen waren etwa die treffgenaue staatliche Stützung der UBS während der Finanzkrise oder die rasch und unbürokratisch aufgezogene Liquiditätshilfe an Unternehmen während der Pandemie. In beiden Fällen stechen die Massnahmen punkto Zielgenauigkeit und Kosteneffektivität im internationalen Vergleich hervor.
Meines Erachtens beinahe noch wichtiger ist aber, was in einer Krise nicht gemacht wird. Hier zeichnet sich die Schweiz im internationalen Vergleich durch wohltuende Zurückhaltung aus. In der gegenwärtigen Krise rund um die Energieverknappung wurden in der Schweiz etwa – anders als in vielen anderen Ländern – weder eine Übergewinnsteuer noch ein Preisdeckel für Energieträger auch nur ernsthaft erwogen. Das stärkt das Vertrauen in den Wirtschaftsstandort und wirkt stabilisierend. Während der Pandemie wurde bei den Lockdowns oft ein weniger interventionistischer Weg beschritten als in vergleichbaren Ländern. Im Verlauf der Finanzkrise wiederum wurde dank eines schrittweisen Vorgehens vermieden, unnötig überdimensionierte Konjunkturprogramme aufzulegen.
Bei aller Genugtuung über die wirtschaftliche Resilienz sollte nicht vergessen werden, dass in Krisen immer auch völlig unkontrollierbare Faktoren und Glück eine wichtige Rolle spielen und nicht garantiert ist, dass es bei zukünftigen anders gelagerten Krisen wieder so gut verläuft. Aber auf jeden Fall gilt es, die offensichtlich stabilisierenden wirtschaftspolitischen Institutionen zu pflegen und zu bewahren; sie haben sich in sehr unterschiedlichen Krisenkonstellationen bewährt.
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Meinung – Erstaunlich resiliente Schweizer Wirtschaft
Gute und stabilisierende Rahmenbedingungen sind wichtig, gleichermassen, dass die Politik ihren Spielraum in Krisenlagen geschickt nutzt. Fast noch bedeutsamer ist, nicht übermässig zu intervenieren.