Dieser Tage ist eine interessante Studie zu den Handelsbeziehungen Schweiz-EU erschienen. Darin nehmen Forscher des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern und des Instituts für Wirtschaftsforschung in Wien eine quantitative Bewertung unterschiedlicher Szenarien der zukünftigen Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU vor. Untersucht werden drei Szenarien mit den folgenden Annahmen und Ergebnissen:
Basisszenario: Das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der EU von 1972 wird modernisiert nach dem Vorbild des kanadisch-europäischen Ceta (Comprehensive Economic and Trade Agreement). Dabei fallen die meisten Zölle und Einfuhrabgaben zwischen der Schweiz und der EU weg, und die nichttarifären Handelshemmnisse nehmen deutlich ab. Zudem bleibt es bei den sektoriellen bilateralen Verträgen I und II beim Status quo.
Eine Berechnung anhand eines Simulationsmodells mit OECD-Daten aus dem Jahr 2018 ergibt, dass in diesem Fall der Aussenhandel der Schweiz mit der EU um einen zweistelligen Prozentpunktwert steigt. Die Wertschöpfung in der Schweiz wächst 1,5%, die Realeinkommen nehmen 2,4% zu.
Alternative Freihandelsabkommen?
Referenzszenario I: Die Schweiz löst sich komplett von der EU und kündigt das Freihandelsabkommen von 1972 sowie die bilateralen Verträge I und II. Sie fällt auf die Drittstaatenregelung der Welthandelsorganisation (WTO) zurück. Die Schweizer Zölle auf EU-Produkten und umgekehrt die EU-Zölle auf Schweizer Produkten werden im Simulationsmodell auf das Niveau der Zölle nach dem Meistbegünstigungsprinzip des Jahres 2018 gesetzt. Die nichttarifären Handelshemmnisse gegenüber der EU nehmen zu. Unter diesen Annahmen bricht der Aussenhandel gemäss dem Simulationsmodell ein, sinkt die Wertschöpfung 1,6% und fallen die Realeinkommen 2,6%.
«Gewiss kommt die Mitgliedschaft in der EU für einen grossen Teil der Schweizer Bevölkerung zurzeit nicht in Frage.»
Referenzszenario II: Die Schweiz wird Mitglied der EU und integriert sich komplett in deren Binnenmarkt. Alle Zölle zwischen der Schweiz und der EU werden auf null gesetzt. Die nichttarifären Handelshemmnisse gegenüber der EU fallen vollständig weg. Unter diesen Voraussetzungen erhöht sich der Aussenhandel mit der EU stark, die Wertschöpfung nimmt 4% zu, und die Realeinkommen steigen 7,2%. Die Mitgliedschaft in der EU bringt in der Schweiz jedoch ökonomische und politische Harmonisierungskosten mit sich. Sie lassen sich gemäss den Studienautoren nicht systematisch quantifizieren. Die tatsächlichen wirtschaftlichen Nettoeffekte eines EU-Beitritts der Schweiz sind daher ungewiss.
Im Fazit kommen die Studienautoren zum Schluss, dass sich mit einem modernen, zusätzlichen Freihandelsabkommen als «souveränitätsschonender Alternative zur weiteren politischen Integration in die EU» bedeutende Wohlstandsgewinne erzielen lassen. Professor Christoph Schaltegger von der Universität Luzern, einer der Studienautoren, hat dies in einem Leitartikel in «Finanz und Wirtschaft» vom vergangenen 8. März auf die griffige Formel «Wohlstand mit Souveränität» gebracht.
Mitentscheiden als Mitgliedstaat
Das Referenzszenario I (komplette Desintegration von der EU) und das Referenzszenario II (vollständige Integration in die EU) fallen bei den Studienautoren hingegen durch. Ersteres, weil es einen wirtschaftlichen Rückschritt gegenüber dem bilateralen Status quo bedeuten würde. Das zweite, weil die wirtschaftlichen Nettoeffekte unklar sind, weil damit «die Abgabe politischer Souveränität» verbunden wäre und weil die grosse Mehrheit der Schweizer Bevölkerung den EU-Beitritt zurzeit nicht will.
Die Studie ist jedoch nicht unangreifbar. Kritisch einwenden lässt sich Folgendes:
Bilateraler Status quo: Diese Annahme ist unrealistisch. Die EU hat wiederholt klargemacht, dass sie die bilateralen Verträge ohne zusätzliche institutionelle Regelungen nicht aufdatieren und nicht ausbauen will. Hält die Schweiz am bisherigen Stand fest, kommt es also zu einer schleichenden Erosion der bilateralen Verträge. Bereits wurde das Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsregeln im Bereich der medizinisch-technischen Produkte nicht erneuert. Als Nächstes droht die Nichtanpassung im Bereich der Maschinen, wenn sich die Schweiz nicht bald auf die institutionellen Forderungen der EU bei der Rechtsübernahme und der Streitschlichtung einlässt.
Souveränitätsabgabe: Ein Festhalten am bilateralen Status quo wäre insofern souveränitätsschonend, als mit einem Ausbau des Bilateralismus mit institutionellen Regeln und zusätzlichen Abkommen ein weiterer Souveränitätsverlust der Schweiz gegenüber der EU entstehen würde. Bereits jetzt hat die Schweiz Souveränität an die EU abgetreten, weil sie EU-Recht vertraglich vereinbart oder autonom übernimmt, ohne in Brüssel und Strassburg bei seinem Erlass mitbestimmen zu können. Ein EU-Beitritt brächte der Schweiz dagegen im Vergleich zum Bilateralismus keine weitere Abgabe von Souveränität, sondern vielmehr einen Souveränitätsgewinn: Die Schweiz könnte mitentscheiden beim Erlass von EU-Recht, das sie in beachtlichen Teilen aufgrund der engen Verflechtung mit der EU sowieso betrifft.
Ablehnung des EU-Beitritts: Gewiss kommt die Mitgliedschaft in der EU für einen grossen Teil der Schweizer Bevölkerung zurzeit nicht in Frage. Das war aber auch schon anders: In den Neunzigerjahren erreichte der EU-Betritt gemäss Umfragen im Schweizer Volk mehrmals eine Mehrheit. Damit es wieder so weit kommt, darf die EU-Mitgliedschaft aber nicht länger als Utopie abgetan werden, sondern muss als wichtige Option der schweizerischen Europapolitik ernst genommen werden, die eine vertiefte Analyse und eine breite Diskussion verdient.
Die Annahmen und das Fazit der eingangs geschilderten Studie sind also mit einer gewissen Vorsicht zu geniessen.
Martin Gollmer war bis 2019 Redaktor bei FuW, arbeitete für den «Tages-Anzeiger» während mehrerer Jahre als EU-Korrespondent in Brüssel und ist Buchautor (aktuelle Publikation: «Plädoyer für die EU. Warum es sie braucht und die Schweiz ihr beitreten sollte»).
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Meinung – EU-Beitritt bringt Souveränitätsgewinn
Die Mitgliedschaft in der EU würde der Schweiz zu mehr Wohlstand verhelfen und brächte verloren gegangene Souveränität zurück.