Für Indien gilt in besonderem Masse, dass bei jeder Beurteilung eines Ereignisses mehrere, meist konträre Ansichten gelten können. In diesem Land von kontinentalen Ausmassen lebt die grosse Mehrheit seiner 1,4 Mrd. Einwohner in Drittweltverhältnissen. Doch in manchen Bereichen finden sich auch Inseln der Ersten Welt, bei denen Indien nicht mehr ein Schwellenland ist, sondern mit den entwickelten Industriestaaten mithalten kann. Zu denken ist an die Softwareindustrie, an die Indian Institutes of Management, an die Rechtsordnung oder an die private Unternehmenswelt.
Obschon die globale Informationsflut grösser ist denn je, herrschen, wenn es um die Bewertung von fremden Kulturen geht, nach wie vor viele Vorurteile und Simplifikationen vor. Dies gilt besonders für so komplexe Länder wie China, Indien oder Indonesien. Dabei ist es gerade in der Evaluation von Finanzmärkten, von Unternehmensrisiken und von Industriestandorten wichtig, ein ausgewogenes Bild zu haben. Dies erlaubt, lukrative Optionen rechtzeitig zu erkennen und Fehleinschätzungen zu vermeiden.
Britisches Erbe erleichtert den Zugang
Berechtigterweise sehen die Inder die britische Kolonialherrschaft als eine Zeit der Ausbeutung und der auch rassistisch motivierten Erniedrigung. Doch mit der zeitlichen Distanz zum «British Raj» ist es auch angebracht, ein paar positive Hinterlassenschaften in Erinnerung zu rufen. Die landesweite Ausbreitung des Englischen als Verkehrssprache ist mit Sicherheit ein Asset. Das Gleiche gilt für das englisch geprägte Rechts- und höhere Erziehungssystem. Zusammen mit einer sehr vielfältigen Medienlandschaft sowie einem westlich geprägten Forschungsbetrieb ermöglicht dies Ausländern in Indien einen im Vergleich etwa zu China erheblich leichteren Zugang.
«Gerade im Infrastruktur- und im Energiebereich bieten sich in Indien angesichts der massiv unterdeckten Nachfrage äusserst lukrative Aussichten.»
Die von den Briten vorangetriebene industrielle Revolution hatte, was Indien betrifft, stark merkantilistische Züge. Manchester und Liverpool florierten auch auf Kosten von Kalkutta und Bombay. Dessen ungeachtet darf nicht unterschlagen werden, dass Sprossen einer einheimischen Industrie lange vor dem Abzug der Briten auszumachen waren. Emblematisch steht dafür die Unternehmensgruppe Tata, die bereits 1868 gegründet wurde. Vor allem um Bombay herum und unter führender Beteiligung der ursprünglich aus Persien stammenden Parsen siedelten sich Industriebetriebe an. Noch erheblich früher, in 1788, hatte in Kalkutta ein britisches Ingenieurunternehmen Fuss gefasst.
Von den makroökonomischen Benachteiligungen abgesehen, mit denen die indischen Unternehmen während der Kolonialzeit zu kämpfen hatten, sollten die indischen Unternehmer die schwierigsten Zeiten während der Herrschaft der Kongresspartei unter der Führung der Sozialisten Jawaharlal Nehru und Indira Gandhi zu bestehen haben. Banken und Versicherungen wurden verstaatlicht, und über das Land herrschte eine machtbesessene und korrupte Bürokratenkaste. Für alles und jedes brauchte man eine Lizenz, und wer erfolgreich produzieren wollte, wurde bestraft. Erst mit den 1991 begonnenen Reformen sollte sich das Klima spürbar verbessern.
Unternehmerdynastien beherrschen die Konzerne
Indiens Gesellschaft beruht auf engen Clanverbindungen. Auch in der Wirtschaft spielen Familienbande eine grosse Rolle. Nicht nur in kleinen und mittelgrossen Betrieben, sondern auch in den indischen Konzernen regieren Dynastien. In den seit mehreren Generationen etablierten Unternehmen wie Tata, Godrej, Birla, Mahindra und Reliance steht der Familienname als Garant für Qualität. «Forbes» zählt vierzehn der grossen indischen Dynastien zu Asiens wichtigsten Unternehmensgruppen. Wie es in einer lebendigen, produktiven Volkswirtschaft üblich sein sollte, so gibt es auch in Indien, wenn man Risikobereitschaft und Geschäftspraktiken berücksichtigt, Unterschiede zwischen den alteingesessenen Akteuren und den Neulingen. Letztere müssen sich mit mehr Ellenbogen durchsetzen als die etablierten Konzerne. Sie gehen notwendigerweise auch mehr Risiken ein und müssen sich bei der Kapitalbeschaffung ebenso wie bei der Sicherung von Absatzmärkten stärker exponieren.
Zu den eindrücklichsten Aufsteigern gehörten vor einer Generation die Ambanis. Vater Dhrirubhai Ambani, dessen ältester Sohn Mukesh zu den allerreichsten Asiaten gehört, machte Reliance zu einem landesweit bekannten Begriff. Zu seinen Zeiten wurde es Mode unter urbanen Mittelschichten, die traditionell auf Vermögenswerte in Gold und Liegenschaften setzten, auch Wertpapiere zu erwerben. Heute geniesst Reliance (Erdöl, Textilien) bei Anlegern das gleiche Ansehen wie die Klassiker Tata (Industriekonglomerat) oder Birla (Mischkonzern).
Adanis Aufstieg und Fall
Der heute 61-jährige Gautam Adani, wie Ambani aus dem westindischen Gliedstaat Gujarat stammend, hatte 1988 mit der Gründung eines Rohstoffhandelsunternehmens seine geschäftliche Karriere begonnen. Die Expansion seines Geschäftsimperiums führte die Adani-Gruppe in so unterschiedliche Industriebereiche wie das Management von Flug- und Seehäfen, Stromerzeugung und Elektrizitätsversorgung, erneuerbare Energie, Lebensmittelverarbeitung, den Betrieb von Kohleminen und Infrastruktur. Er sollte es auf dem Höhepunkt, im September vergangenen Jahres, zu einem Marktwert von beinahe 270 Mrd. $ für die Adani-Gruppe bringen.
Noch im vergangenen Frühherbst hatte die Adani-Gruppe von Holcim die beiden Zementgesellschaften Ambuja Cements und ACC für insgesamt 6,4 Mrd. $ erworben. Hinter der von der Birla-Gruppe kontrollierten UltraTech wurde dadurch die Adani-Gruppe auf einen Schlag zu Indiens zweitgrösstem Zementhersteller. Nur rund ein Vierteljahr später sollte der grosse Absturz kommen, als die Adani-Gruppe innerhalb einer Woche mehr als 110 Mrd. $ Börsenwert verlor. Auslöser war ein Bericht des amerikanischen Leerverkäufers Hindenburg Research, der den Adani-Konzern diverser gravierender Vergehen bezichtigte.
Nun waren die Börsenkurse exzessiv, und eine kräftige Korrektur musste angesichts des auch in Indien sich verlangsamenden Wirtschaftswachstums sowie angesichts anziehender Zinsen über kurz oder lang erwartet werden. Doch die Reaktionen waren offensichtlich übertrieben, und die Anlegergemeinde beachtete vor allem nicht genügend die Solidität der meisten Industriebereiche, in denen die Adani-Gruppe engagiert ist. Gerade im Infrastruktur- und im Energiebereich bieten sich in Indien angesichts der massiv unterdeckten Nachfrage äusserst lukrative Aussichten.
Nach einer auch politisch motivierten Überreaktion haben sich die Dinge beruhigt. Offensichtlich hatte die indische Opposition versucht, aus dem Fall Adani einen Fall Modi zu machen. Der indische Ministerpräsident kommt ebenfalls aus dem Gliedstaat Gujarat, und es lag nahe, Spekulationen über Günstlingswirtschaft zu nähren.
Die indischen Aufsichtsbehörden haben sich kompetent der Sache angenommen, und die Angelegenheit ist aus den internationalen Schlagzeilen verschwunden. Die ganze Adani-Saga sollte indes Anlass sein, sich eingehender mit der indischen Unternehmenswelt zu befassen. Gerade auch mit Blick auf die Verwerfungen, die in den vergangenen zwei Jahren die chinesische Wirtschaft heimgesucht haben, sollte der komplexen und vielfältigen Unternehmenskultur in Indien mehr Augenmerk geschenkt werden. Von Hasardeuren und Neureichen bis hin zu alteingesessenen Häusern und konservativen Werten bietet die indische Unternehmenswelt eine beispiellose Vielfalt an Anlagemöglichkeiten.
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Meinung – Feuerprobe für Indiens Aufsteiger
Die Turbulenzen um die Adani-Gruppe haben sich vorerst gelegt. Für Anleger empfiehlt es sich jetzt, einen kritischen Blick auf die komplexe indische Unternehmenswelt zu werfen.