Zeitgenössische KunstFicus, Marmor und MDF-Platten: Kapwani Kiwanga strukturiert die Welt
Die franko-kanadische Künstlerin Kapwani Kiwanga beschäftigt sich im Zürcher Museum Konstruktiv mit Mythen und ihrer Entstehung. Zudem geht es auch um Machtasymmetrien.

Der Ausstellungsaufbau von Kapwani Kiwanga ist beendet. Die Künstlerin wirkt entspannt, sie trägt Jeanshemd und spricht auf Englisch mit leichtem kanadischen Akzent. Die studierte Anthropologin setzt sich in ihren Arbeiten mit der Geschichte und der Kultur eines Orts oder eines Objekts auseinander und bedient sich dabei eines extrem breiten Arsenals an Medien. Ein Stipendiatenprogramm führte die Kanadierin zuerst nach Frankreich, wo sie 2020 mit dem Prix Marcel Duchamp ausgezeichnet wurde. Ausstellungen wie etwa im New Museum in New York oder im Münchner Haus der Kunst folgten.
Kiwangas Arbeiten sind konzeptuell – oft stehen die Objekte, die die Künstlerin für ihre Installationen auswählt, stellvertretend für ihre (ortsspezifische) Geschichte, die Kiwanga über ihre Archivarbeit zutage bringt. Im Kunstinstitut Melly in Rotterdam (vormals: Witte de With) zeigte sie etwa Papierreplika von Pflanzen, die sowohl als sichtbares wie unsichtbares Zeugnis der Ungleichheit fungieren: Während Pflanzen wie der sogenannte Pfauenstrauch im 18. Jahrhunderts von den versklavten schwarzen Frauen Surinams als Mittel zum Schwangerschaftsabbruch genutzt wurde, fungierten Papierblumen in Europa als ein viktorianisches Dekorativobjekt, das speziell von Frauen angefertigt wurde.

Schöpfungsmythen
«In meiner Arbeit geht es um Machtasymmetrien, Machtverhältnisse und wie sie zustande gekommen sind», erklärt Kiwanga, die mit ihrer Ausstellung im Haus Konstruktiv auch den jährlich vergebenen Zurich Art Prize entgegennimmt. In der Schweiz hat sie bereits in der Vergangenheit ausgestellt, etwa im Kunsthaus Pasquart in Biel oder als Teil der Art Basel Unlimited.
Kiwangas aktuelle Arbeit dreht sich um Schöpfungsmythen. In «The worlds we tell: Threshold» installierte Kiwanga violette MDF-Platten mit einem Bett aus weissen Steinen. Darauf: mehrere Einlassungen aus schwarzem Marmor und Spiegelglas und zugeschnittene Metallrohre – eine Versuchsanordnung als Skulptur, eine Interpretation des Schöpfungsmythos der Bantu-Mythologie. Sonne, Erde, ein Fluss, das Meer und die vier Säulen der Welt. Aus dem primordialen Baum des Schöpfungsmythos wurden drei Ficusholzkugeln unterschiedlicher Grösse.
Schöpfungsmythen sind archetypische Träume, sie geben einen Lebenszweck vor und platzieren das Individuum gegenüber seinem kosmischen Zweck. Der Schöpfungsmythos wird zur Blaupause des Modells jeder Tätigkeit, bei der zerstört, geschaffen und gestaltet wird: vom kolonialen Narrativ, das sich von der Landnahme über die Botanik bis in die Folklore weiterzieht. Das kosmische Ei ist bekannt für seine Dualitäten, die es hervorgebracht hat, oder in der europäisch-orphischen Tradition: Oberwelt und Unterwelt, Ordnung gegen Chaos. Bei den Bantu gibt es eine Geister- und eine Menschenwelt. «Je nachdem, wo man sich im Raum befindet, ist man dann in der einen, oder der anderen», so Kiwanga, während sie durch die Ausstellung spaziert.
Welcher Schöpfungsmythos ist der, der ein Machtungleichgewicht festschreibt? «Machtverhältnisse befinden sich konstant im Wandel. Eine simple Dichotomie gibt es für mich nicht», findet Kiwanga. Vielleicht ist das der Grund, warum manche Elemente der Bantu der Schöpfungssymbolik anderer Weltreligionen auch nicht so ganz unähnlich sind.
Die Farbe von Institutionen
Bei der im oberen Stockwerk gezeigten Serie der «Linear Paintings» zeigt Kiwanga zweifarbige Farbtafeln, die abstrakte Malereien sein könnten. Die jeweiligen gezeigten Farben kamen dabei in bestimmten historischen Institutionen zur Anwendung, so etwa in einem Gefängnis in Guyana oder einer Schule, einer Strafkolonie oder einem Gebäude der US-Küstenwache, auf die auch der jeweilige Titel verweist. «Die Frage, warum bestimmte Institutionen welche Farben verwendet haben, hat mich interessiert», so Kiwanga. «Alle Farbe beeinflussen unser Verhalten und unsere Stimmung.»

Für Kiwanga geht es nach der Ausstellungseröffnung sofort zurück in die USA. Sie hat derzeit eines der renommierten Radcliffe Fellowships an der Harvard University inne. Man sieht ihr die Begeisterung an, wenn sie erzählt, wie sie in den Archiven und den Bibliotheken der Universität arbeiten kann.
Ganz faktengetreu nehmen soll und darf man Kiwangas strukturierte Welten jedoch nicht. Ein Mythos – egal, ob in der idealen Farbe eines Krankenhauses oder einer Schöpfungsallegorie – wird erst dann zum Mythos, wenn er sich fortpflanzt, niedergeschrieben, ausgeschmückt und überliefert wird. Dieses Hinterfragen des Wahrheitsanspruchs ist ebenfalls Teil der Arbeit Kiwangas – in der Vergangenheit öfter als Teil von Vorträgen der Künstlerin, die Fakt und Fiktion vermischen. In Zürich erinnert daran die Audioarbeit «500 ft», die von Kiwanga eingesprochene Faktenstücke zu den Institutionen hinter den Linear Paintings ergänzt.
Obwohl das Rohmaterial die gelebte Geschichte ist, sind Kiwangas Arbeiten poetisch und ästhetisch. So ästhetisch, dass sie aufgrund der Elemente wie Spiegel, Steine und monochromen Farben nicht nur gewisse Anleihen am Minimalismus nehmen, sondern sich auch in die pragmatische Ästhetik des Hauses Konstruktiv erstaunlich gut einfügen – vielleicht sogar zu gut? «Wenn man sich einer gewissen Materialität bedienen kann, dann – warum nicht», findet die Künstlerin. «Keines meiner Materialien wurde aber nur wegen der Ästhetik allein ausgewählt.»
Die Ausstellung im Haus Konstruktiv ist bis zum 15. Januar 2023 geöffnet.
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