Vor sieben Monaten ist Italien politisch weit nach rechts gerückt. Eine Koalition aus drei Parteien bildete im Oktober eine Regierung, von denen zwei allerdings bereits in der vorangegangenen grossen Koalition beteiligt gewesen waren. Das wirklich Neue an diesem Machtwechsel in Rom verkörperte die Dritte und Grösste im Bunde: die aus den Fundamenten des faschistischen MSI und seinem Nachfolger AN mitten in der Eurokrise vor elf Jahren gegründete Partei Brüder Italiens (FdI).
Als einzige hatte sie nicht an Mario Draghis breiter Exekutive der nationalen Einheit partizipiert, die zwar in Europa dank ihres illustren Chefs, des ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, viel Vertrauen genoss, sich aber daheim immer mehr zwischen den gegensätzlichen politischen Lagern zerrieb. Draghi musste zurücktreten. Die ehemaligen Koalitionäre schnitten in den vorgezogenen Wahlen mässig bis schlecht ab. Nur FdI und seine Paräsidentin Giorgia Meloni triumphierten. Sie übernahm das Amt der Premierministerin. Marine Le Pen und Victor Orbán gratulierten. Ein Aufschrei der Sorge ging durch Europas Öffentlichkeit.
Rückenwind für die Regierung
Der Eklat blieb aus. Giorgia Meloni ist als Regierungschefin durchaus erfolgreich. Sie sitzt fest im Sattel. Ihre Partei hält sich in den wöchentlich gemessenen Umfragewerten stabil an erster Stelle. Das ist keine Gewähr für die Zukunft, hat sie doch einige Wahlversprechen, beispielsweise zur Rentenversicherung, stillschweigend vergessen. Aber die Sechsundvierzigjährige operiert bisher in einem äusserst günstigen Umfeld.
Denn es gibt gegenwärtig keine regierungsfähige Alternative. Die Opposition ist zerstritten und aufgesplittert in zahlreiche, zum Teil winzige Parteien. Zwischen den beiden grössten, dem sozialdemokratischen PD und dem nach vielen Aufteilungen übrig gebliebenen Rumpf der Fünf-Sterne-Protestbewegung, herrscht eine Art Kontaktverbot. Der PD selbst ist in interne Machtkämpfe verstrickt. Mit einer neuen Vorsitzenden rückte er deutlich nach links und hat daraufhin manchen altgedienten Exponenten der Mitte verloren.
Wirtschaftlich befindet sich Italien zudem im Aufwind und davon profitieren erfahrungsgemäss die Regierenden. Mit Genugtuung wird in Rom zur Kenntnis genommen, dass die Volkswirtschaft rascher wächst als in Deutschland oder Frankreich. Vor allem der Tourismus boomt, eine für die breite Bevölkerung nicht zu unterschätzende Einkommensquelle.
Hier kommt mancher konjunkturelle Aufholeffekt der vergangenen Krisenjahre zum Tragen. Aber vor allem blüht das Land unter einem finanziellen Dauerregen auf: Seite Mitte 2021 regnet es Milliarden aus Brüssel. Bisher wurden im Rahmen des Wiederaufbaufonds NextGenEU 67 Mrd. € in halbjährlichen Tranchen überwiesen. Weitere acht über je 11 bis 19 Mrd. € sollen bis Mitte 2026 folgen. Sie sind an zeitliche und projektbezogene Auflagen gebunden. Ein gutes Drittel davon sind Subventionen, den Rest borgt sich Italien zu günstigen Konditionen.
Ministerien, öffentliche Gebetskörperschaften, staatliche und halbstaatliche Institutionen und Verbände werden mit Geldern überflutet. Die Kassen sind übervoll. Das Problem besteht inzwischen darin, die zweckgebundenen Mittel auch wirklich unters Volk zu bringen. Die Gemeinden sind teilweise überlastet. Die bürokratische Betreuung von allein rund 80'000 Kleinstprojekten lässt sich mit dem bestehenden Personal häufig nicht fristgerecht realisieren. Es ist ein Luxusproblem, das die Regierung zu lösen verspricht.
Die Exekutive durchlebt finanziell also aussergewöhnlich gute Zeiten. Dass sie ausgerechnet vom Brüsseler Milliardentopf politisch profitiert, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn die Vorgängerregierungen haben ihn durchgesetzt und dafür gesorgt, dass Italien der grösste Nutzniesser des NextGenEU in Europa ist. Melonis FdI kämpfte gegen ihn, weil es sich dabei nur um ein weiteres Exempel für die Fremdherrschaft Brüssels über das Land handle.
«Italiens Regierung durchlebt finanziell also aussergewöhnlich gute Zeiten. Dass sie ausgerechnet von dem Brüsseler Milliardentopf politisch profitiert, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.»
Im Einklang mit Brüssel
Melonis Kurs in der Europapolitik stellt denn auch die wichtigste und vielleicht überraschendste Entwicklung der Rechtsregierung dar, die mit nationalistischen Positionen und revanchistischen Untertönen angetreten ist. Die hat sie nicht aufgegeben. Aber in der Praxis wird Pragmatismus gelebt.
In der Haushaltspolitik liegt die Regierung inzwischen auf Kurs mit der EU-Kommission. Anders als die meisten ihrer Vorgänger pokert Meloni nicht um höhere Defizite. Im Gegenteil. Sie beendete sogar die von Draghi während des Energiepreisschocks 2022 beschlossenen Benzinsubventionen. Sie tat dies mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die fiskalpolitischen Vorgaben der EU und auf das Ziel, die Staatsschulden zu senken. Meloni riskiert damit den Unmut der Wähler daheim, wo der Literpreis an der Zapfsäule über Nacht 20 Cent gestiegen ist.
Der Lohn für diese Politik ist bedeutsam: zum einen die Anerkennung an den Finanzmärkten. Die Ratingagenturen stuften die Bonität des hoch verschuldeten Staats entgegen manchen Prognosen nicht herab. Der Risikoaufschlag auf die Zinsen italienischer Staatsanleihen verläuft seit Monaten unspektakulär seitwärts und liegt deutlich unter dem Niveau, als die Macht in Rom wechselte.
Zum anderen hat sich Meloni damit die Anerkennung in Brüssel als verlässliche Regierungschefin geholt. Nichts wird dort so gehasst wie die populistischen Kapriolen, mit denen die rechtspolitischen Vorgänger Matteo Salvini 2018/19 und Silvio Berlusconi einige Jahre zuvor jedes Vertrauen in die italienische Politik verspielt hatten.
Damals äusserte sich auch die heutige Premierministerin noch ganz anders. «Bisher habt ihr von mir stets zurückhaltende Worte gehört, aber da sich Deutschland taub stellt, ist der Augenblick gekommen, um Europa mitzuteilen, dass Italien aus dem Euro austreten muss», verkündete sie 2014 als frisch gewählte FdI-Parteipräsidentin vom Podium. Es sei ihr egal, wenn man sie deshalb als Populistin bezeichne. «Lieber Populist als Diener!»
Das grössere Ziel im Visier
Ist Meloni also inzwischen politisch gemässigt? Nicht wirklich. Vielmehr hat sie die Wahlen zum EU-Parlament 2024 im Blick und bereitet das Terrain für einen Wahlsieg der Rechtskonservativen vor, mit ihr als wichtigster Protagonistin. Das wird nicht einfach. Denn wie in Italiens Parlament sind auch in Strassburg die Konservativen in drei politische Lager gespalten.
Melonis FdI und Salvinis Lega führen im EU-Parlament zwei unterschiedliche Fraktionen an, wobei die deutsche AfD, die österreichische FPÖ und das französische RN von Marine Le Pen mit der Lega kooperieren, nicht mit FdI. Beide Fraktionen stellen je nur etwa ein Drittel der Mandate, über die die christdemokratische, von Deutschlands CDU dominierte EVP-Fraktion verfügt. Ihr gehört wiederum Berlusconis FI an.
Schneidet die Regierungschefin in dieser Wahl gut ab, dann stärkt das auch ihre Machtposition daheim und vor allem innerhalb der Regierungskoalition. Die Ausgangslage in Europa ist aber knifflig. Einerseits muss man sich gegenüber der EVP auf der linken und der Lega/AFD etc. auf der rechten Seite abgrenzen, um ein eigenes Profil zu formen. Andererseits gilt es, vor allem dem grossen EVP-Lager Stimmen abzujagen, was auch heisst, dass Meloni und ihre Partner es mit den eurokritischen und ausländerfeindlichen Formulierungen nicht übertreiben dürfen.
Bisher läuft der Feldzug nach Plan. Vor allem in der ungelösten Einwanderungsfrage bewegt sich die öffentliche Meinung im übrigen Europa auf manche der von Italiens Rechten seit Jahren vertretenen Positionen zu.
Offen ist nur, bis zu welchem Punkt Melonis italienische Wählerbasis dem EU-freundlicheren haushaltspolitischen Kurs folgt. Lega-Chef Salvini steht bereits in Startposition. Er droht in den laufenden Verhandlungen zur Reform des EU-Fiskalpakts mit einem Veto. Sollten die Defizit- und Schuldenregeln nicht den italienischen Interessen entsprechen, werde sich sein Land weiterhin weigern, den Euro-Rettungsschirm ESM zu ratifizieren.
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Meinung – Giorgia Melonis überraschende Europapolitik
Sieben Monate nach dem Machtwechsel in Rom, der erklärte Eurogegner an die Regierung brachte, stehen europapolitische Positionen im Vordergrund. Aber anders, als erwartet.