EZB unter DruckInflation im Euroraum klettert über 10%
Erstmals seit der Einführung des Euros liegt die Teuerungsrate in der Eurozone über der 10%-Marke. Hohe Energiepreise haben sie im Oktober auf 10,7% getrieben.

Die Inflation im Euroraum erreicht immer neue Höchstwerte und ist im Oktober erstmals seit dem Start des Euro über die Marke von zehn Prozent geklettert. Die Verbraucherpreise stiegen angeheizt durch den anhaltenden Preisschub bei Energie binnen Jahresfrist um 10,7%, wie das Statistikamt Eurostat am Montag auf Grundlage einer ersten Schätzung mitteilte. Das ist das höchste Niveau seit Einführung des Euro im Jahr 1999. Von Reuters befragte Experten hatten dagegen nur mit einem Zuwachs auf 10,2% gerechnet, nach 9,9% Inflation im September. Der erneute und unerwartet kräftige Preisschub macht klar, dass die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrem Zinserhöhungskurs noch nicht am Ziel angelangt ist.
«Mit 10,7% liegt die Inflation schon jetzt meilenweit über den 9,2%, die die EZB für das vierte Quartal erwartet», kommentierte Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer die neuen Daten. «Auf diese Inflationsrisiken sollte sich die EZB gemäss ihres Mandats auf der Dezember-Sitzung konzentrieren – und nicht auf die Rezessionsrisiken.» Nach Einschätzung von Alexander Krüger, Chefvolkswirt der Privatbank Hauck Aufhäuser Lampe, wird die Inflationsrate vorerst zweistellig bleiben. «Anders als zuletzt signalisiert, sollte die EZB die Inflationsbekämpfung wieder ernster nehmen,» forderte er. Nach Einschätzung von Commerzbank-Chefvolkswirt Krämer braucht der Euroraum im Dezember einen weiteren grossen Zinsschritt um 0,75 Prozentpunkte.
Die Inflation in der Währungsgemeinschaft liegt inzwischen mehr als fünfmal so hoch wie das Ziel der EZB von zwei Prozent, das sie als optimal für die Wirtschaft ansieht. Trotz zunehmender Rezessionssorgen hatten die Währungshüter vergangene Woche den Leitzins um 0,75 Prozentpunkte auf nunmehr 2,0% angehoben. Der an den Finanzmärkten massgebliche Einlagensatz für Gelder, die Geschäftsbanken bei der EZB parken, wurde im selben Umfang auf 1,50% erhöht. Laut dem niederländischen Notenbankchef Klaas Knot wird die nächste Zinserhöhung mindestens 0,50 Prozentpunkte betragen. Die kommende Zinssitzung der EZB findet am 15. Dezember in Frankfurt statt – es ist das letzte Zinstreffen in diesem Jahr.
Heikles Manöver für die EZB
Für die EZB wird das ein Drahtseilakt, denn mit ihren Jumbo-Zinsschritten läuft sie Gefahr, eine mögliche Rezession im Euroraum noch weiter zu verschärfen. Im Sommer war die Wirtschaft im Euroraum trotz des Ukraine-Kriegs und der dadurch angefachten Energiekrise noch leicht gewachsen. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) erhöhte sich laut Eurostat zwischen Juli und September wie von Experten erwartet um 0,2% zum Vorquartal. Dennoch hat die Konjunktur mittlerweile deutlich an Fahrt verloren: Im Frühjahr hatte das Wachstum noch bei 0,8% gelegen.
Laut EZB-Präsidentin Christine Lagarde ist die Wahrscheinlichkeit einer Rezession inzwischen grösser geworden, wie sie nach dem Zinsbeschluss am Donnerstag sagte. Elmar Völker, Analyst bei der LBBW, ist pessimistisch: «Auch wenn das Wetter noch vergleichsweise milde ist, schauen wir wirtschaftlich in einen kalten, dunklen Abgrund.» Nach Einschätzung von Jörg Zeuner, Chefvolkswirt der Fondsgesellschaft Union Investment, wird die Wirtschaftsleistung im Winterhalbjahr rückläufig sein. «Die Gründe dafür sind vor allem die hohen Energiepreise, die mittlerweile nicht mehr nur die Industrie, sondern auch den Dienstleistungssektor belasten.» Und auch den Verbrauchern machten die gestiegenen Lebenshaltungskosten zu schaffen.
Im Oktober waren die Energiepreise besonders stark nach oben geschossen. Energie verteuerte sich binnen Jahresfrist um 41,9%. Im September hatte der Anstieg noch bei 40,7% gelegen. Die Preise für Lebensmittel, Alkohol und Tabak nahmen um 13,1% zu, nach 11,8% im September. Industriegüter ohne Energie verteuerten sich um 6,0%, verglichen mit 5,5% im September. Bei den Dienstleistungen erhöhte sich der Preisanstieg leicht auf 4,4%, von 4,3% im September.
Wirtschaft wächst im Sommer erwartungsgemäss 0,2%
Trotz Rekordinflation und Ukraine-Krieg ist die Wirtschaft der Eurozone im Sommer etwas gewachsen. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) stieg zwischen Juli und September um 0,2% zum Vorquartal, wie das Europäische Statistikamt Eurostat am Montag mitteilte. Von Reuters befragte Fachleute hatten damit gerechnet. Dennoch hat die Wirtschaft im Währungsraum im Zuge der Energiekrise deutlich Fahrt verloren. Denn im Frühjahr hatte es noch 0,8 Wachstum gegeben. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stieg die Wirtschaftskraft im Sommer um 2,1%.
Für Schwung sorgten Deutschland als grösste Volkswirtschaft in der Eurozone mit 0,3% Wachstum und Italien, wo es sogar um 0,5% bergauf ging. In Portugal zog die Konjunktur um 0,4% an. Die Wirtschaft in Frankreich und Spanien legte je um 0,2% zu.
Auf der Wirtschaft im Euroraum lastet die hohe Inflation, die durch den Ukraine-Krieg weiter befeuert wird und das Geschäftsklima trübt. Die Jahresteuerung kletterte im Oktober überraschend deutlich auf das neue Rekordhoch von 10,7%. Für Deutschland lässt sich Ökonomen zufolge eine Rezession im Winter kaum noch vermeiden. Auch der Wirtschaft in der Euro-Zone droht deutlicher Gegenwind.
Ökonomen zur Rekordinflation und zum Wirtschaftswachstum
Jörg Zeuner, Chefökonom Union Investment: «Es ist eine gute Nachricht: Die Wirtschaft der Eurozone wächst noch. Allen Widrigkeiten zum Trotz haben der anhaltende Beschäftigungsaufbau und ein immer umfangreicheres regulatorisches und fiskalpolitisches Eingreifen verhindert, dass der Konsum infolge des inflationsbedingten Realeinkommensverlusts sinkt. Dazu beigetragen haben auch Ersparnisse der Konsumenten aus der Zeit der Pandemie. Die zweite gute Nachricht: Deutschland hat zur Stärkung des europäischen BIP beigetragen.
Grund zum Jubel besteht trotzdem nicht. Die BIP-Zahlen deuten wie viele andere Indikatoren darauf hin, dass die Konjunktur über den Sommer deutlich an Fahrt verloren hat. Im Winterhalbjahr wird die Wirtschaftsleistung rückläufig sein. Die Gründe dafür sind vor allem die hohen Energiepreise, die mittlerweile nicht mehr nur die Industrie, sondern auch den Dienstleistungssektor belasten. Und auch den Verbrauchern machen die gestiegenen Lebenshaltungskosten zu schaffen. Hinzu kommt, dass die steigenden Finanzierungskosten auch die Unternehmensinvestitionen hemmen.
Schnelle Linderung ist nicht in Sicht. Durch die hohen Teuerungsraten bleibt die Europäische Zentralbank unter Druck. Mit einer geldpolitischen Wende in der Eurozone oder einem Rückgang der Finanzierungskosten ist also vorerst nicht zu rechnen.»
Elmar Völker, Landesbank Baden-Württemberg: «Die Wachstumsdaten für das dritte Quartal waren nicht ganz so schlecht wie befürchtet, die Inflationsentwicklung dafür noch dramatischer. Beides hatte sich am Freitag mit den für Deutschland veröffentlichten Zahlen bereits abgezeichnet. Die Wirtschaft hält sich noch knapp oberhalb der Schwelle zur Rezession, wobei im Sommer vor allem Deutschland und Italien positiv überrascht haben. Die wachsenden Anzeichen eines Kontrollverlusts bei der Inflation, die einmal mehr alle Erwartungen übertroffen hat, lassen jedoch nichts Gutes für das Winter-Halbjahr erwarten. Auch wenn das Wetter noch vergleichsweise milde ist, schauen wir wirtschaftlich in einen kalten, dunklen Abgrund. Aus Sicht der Geldpolitik dürfte das Spannungsfeld zwischen Rezessionssorgen und Inflationsgefahren weiter zunehmen. Da ein Zenit bei der Inflation noch immer nicht in Sicht ist, gehen wir einstweilen davon aus, dass sich auch auf der Dezember-Sitzung der EZB die Falken mit dem Plädoyer für einen weiteren Zinsschritt von 0,75 Prozentpunkten durchsetzen werden.»
Alexander Krüger, Chefvolkswirt Hauck Aufhäuser Lampe: «Die Inflationsrate steigt, und sie wird vorerst auch zweistellig bleiben. Anders als zuletzt signalisiert, sollte die EZB die Inflationsbekämpfung wieder ernster nehmen. Die Eurozonen-Wirtschaft scheint vom Zaubertrank der Gallier getrunken zu haben. Angesichts der Energiekrise ist der BIP-Zuwachs ordentlich. Wegen hell leuchtender Rezessionssignale scheint nun aber kaum noch Zaubertrank vorhanden zu sein. Vor allem der Konsum dürfte zu einer im Winterhalbjahr leicht schrumpfenden Wirtschaftstätigkeit beitragen.»
Jörg Krämer, Chefökonom Commerzbank: «Mit 10,7% liegt die Inflation schon jetzt meilenweit über den 9,2%, die die EZB für das vierte Quartal erwartet. Auf diese Inflationsrisiken sollte sich die EZB gemäss ihres Mandats auf der Dezember-Sitzung konzentrieren – und nicht auf die Rezessionsrisiken. Der Euroraum braucht im Dezember einen weiteren grossen Zinsschritt um 0,75 Prozentpunkte.»
REUTERS
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