So wie Fussballstars bekommen auch Präsidenten tendenziell zu viel Anerkennung, wenn alles gut läuft, oder aber sie sind an allem schuld, wenn es schiefgeht. Wie bei Spitzensportlern entzieht sich dieser Aspekt des öffentlichen Lebens weitgehend auch der Regierungskontrolle. Versuchen Staatslenker jedoch selbst, übertriebene Lorbeeren für angebliche Erfolge einzuheimsen oder vermeintliche Misserfolge herunterzuspielen, kann ihre Glaubwürdigkeit rasch darunter leiden. US-Präsident Joe Biden entwickelt sich zu einem typischen Beispiel.
Bei einer amerikanischen Präsidentschaft geht es nie nur um den Präsidenten. Ebenso bedeutsam sind die politischen Ernennungen in Behörden und Verwaltung, vom Kabinett abwärts. In dieser Hinsicht hat sich Biden nicht mit Ruhm bekleckert. Verkehrsminister Pete Buttigieg, einst aufsteigender Stern der Demokratischen Partei, hat wegen unzureichender Reaktionen auf Lieferkettenprobleme, Betriebseinstellungen bei Fluglinien und die chemisch-toxischen Auswirkungen eines Zugunglücks in Ohio an Strahlkraft eingebüsst. In ähnlicher Weise hat Sicherheitsminister Alejandro Mayorkas wiederholt behauptet, die Südgrenze der USA sei dicht, obwohl sie 2022 Jahr von Millionen Menschen illegal überquert wurde, während Kartelle weiterhin riesige Mengen an tödlichen Opioiden über legale und illegale Einreisepunkte ins Land bringen.
Ähnlich problematisch ist Bidens Ansatz in der Gesetzgebung. Da in den meisten dieser Fragen der Kongress das letzte Wort hat (vorbehaltlich des Vetos des Präsidenten und der rechtlichen Überprüfung), sollte die Effektivität eines Präsidenten teilweise daran gemessen werden, wie gut es ihm gelingt, parteiübergreifende Unterstützung für politische Massnahmen zu gewinnen, die auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt weiterbestehen. Wie Biden es selbst sagt: «Für grundlegende Veränderungen ist es wirklich wichtig, einen Konsens zu finden, um zu gewährleisten, dass die Menschen diese Veränderungen mittragen, damit diese auch nachhaltig wirken.»
Zu geringes Ansehen, zu hohes Alter
In der Praxis jedoch hat Biden genau das Gegenteil getan und weitreichende, wenig zielgerichtete Massnahmen durchgesetzt, deren Nutzen in keinem Verhältnis zu den übermässigen Kosten steht und die grossteils auch nur mit einer hauchdünnen Mehrheit verabschiedet worden sind. Sein unnötiges, 1,9 Bio. $ schweres Konjunkturpaket American Rescue Plan hat dazu beigetragen, die Inflation auf den Höchststand der letzten vier Jahrzehnte zu treiben, und von den Billionen an neuen Ausgaben, die er durch den Kongress gepeitscht hatte, hat nur ein geringer Teil – nämlich diejenigen für Infrastruktur und die Subventionen der heimischen Halbleiterindustrie – überhaupt die Unterstützung der oppositionellen Republikaner erhalten.
«Bidens grösste Hoffnung für 2024 besteht darin, dass die Republikaner erneut den früheren Präsidenten Donald Trump als Kandidaten nominieren.»
Werden weitreichende politische Massnahmen ohne Unterstützung der anderen Seite durchgesetzt, ist es viel wahrscheinlicher, dass sie rückgängig gemacht werden, sobald die Macht wechselt. Seit Präsident Ronald Reagans historischen Steuersenkungen und -reformen in den Achtzigerjahren hat daher jeder nachfolgende Präsident in einem nicht enden wollenden Gezerre die Steuersätze entweder angehoben oder gesenkt. Diese Art der Politikgestaltung führt zu wirtschaftlicher Unsicherheit und erschwert die langfristige Planung für Haushalte und Unternehmen erheblich.
Bidens fortgeschrittenes Alter und seine häufigen Aussetzer haben das Glaubwürdigkeitsproblem noch verschärft. Viele Beobachter, darunter auch viele Demokraten, fragen sich, ob er überhaupt eine zweite Amtszeit anstreben sollte (an deren Ende er 86 Jahre alt wäre). Gemäss einer aktuellen NBC-Umfrage hält nur etwa ein Drittel der Amerikaner Biden für ehrlich und vertrauenswürdig oder für fähig, mit Krisen umzugehen, und nur 28% sind der Meinung, er verfüge über die für das Amt notwendige geistige und körperliche Gesundheit. Obwohl er im Hinblick auf seinen Umgang mit dem Ukrainekrieg besser abschneidet, hat sich sein öffentliches Ansehen nach dem desaströsen Rückzug aus Afghanistan nie erholt. Biden versuchte, dieses Debakel als einen mit dem Militär abgestimmten «ausserordentlichen Erfolg» zu verkaufen, doch das wurde von hochrangigen Militärs bald als Lüge entlarvt.
Defizit und Inflation
Oder man denke an Bidens Behauptung, das Haushaltsdefizit um rekordverdächtige 1,4 Bio. $ gesenkt zu haben. Tatsächlich geht aus den Daten hervor, dass die Verringerung des Defizits von 2021 auf 2022 ausschliesslich auf das Auslaufen massiver, pandemiebedingter Ausgabenprogramme zurückzuführen ist. «Das Weisse Haus verdreht bewusst die Fakten», warnte Maya MacGuineas vom Ausschuss für verantwortungsvolle Haushaltspolitik. Auch Dan White von Moody’s Analytics kommt zum Schluss, dass «die Politik der Regierung das Defizit unter dem Strich vergrössert und nicht verringert hat».
Dann ist da noch Bidens Behauptung, es sei nicht seine Schuld, dass die Inflation so hoch sei wie seit 1981 nicht mehr. Als er kürzlich zu diesem Thema befragt wurde, antwortete er, die Inflation sei «schon dagewesen, als ich hier anfing. Wissen Sie noch, wie die Wirtschaft aussah, als ich hierherkam? Die Arbeitsplätze brachen massenhaft weg, die Inflation stieg.» Das ist schlichtweg falsch. Als Biden das Amt übernahm, lag die jährliche Inflation bei 1,4% – auf einem Füfjahrestief –, und auf dem Arbeitsmarkt waren bereits 12,5 der 22 Mio. Stellen zurückgewonnen, die neun Monate zuvor aufgrund der staatlich angeordneten Lockdowns während der Pandemie verloren gegangen waren.
Jede Führungsperson, deren Behauptungen nicht einmal annähernd der Realität entsprechen, läuft Gefahr, an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Doch Glaubwürdigkeit ist das wertvollste Gut eines Präsidenten, wenn es darum geht, wichtige Ziele zu erreichen. Bidens grösste Hoffnung für das Jahr 2024 – wenn die Republikaner voraussichtlich die Kontrolle im Senat zurückerobern werden – besteht darin, dass die GOP erneut den früheren Präsidenten Donald Trump als Kandidaten nominiert.
Hoffen auf das Fed
Dieser Wunsch könnte in Erfüllung gehen. Da es bei den Republikanern eine grosse Anzahl interessanter Kandidaten gibt, könnten wir eine Neuauflage von 2016 erleben, als sich sechzehn Kandidaten alle Stimmen, die nicht auf Trump entfielen, teilen mussten, sodass Trump die Nominierung der Partei leicht für sich entscheiden konnte. Floridas erfolgreicher Gouverneur Ron DeSantis ist der einzige Kandidat, dessen Beliebtheitswerte unter der republikanischen Wählerschaft überhaupt an diejenigen Trumps heranreichen. Biden sollte jedoch vorsichtig sein, was er sich wünscht. In einem jüngst von Harvard Caps-Harris veröffentlichten hypothetischen Match-up lag Trump mit 46 zu 41% vorn.
Ausserdem wird Biden in den nächsten zwei Jahren erneut mit Gegenwind konfrontiert sein. Eine neue Umfrage von ABC News/«Washington Post» zeigt, dass ein historisch hoher Anteil von 41% der Leute das Gefühl haben, dass es ihnen nicht so gut geht wie früher – trotz des gesunden Arbeitsmarktes und der Arbeitslosenquote von 3,4%. Der Grund dafür ist einfach: Die Amerikaner leiden unter sinkenden Reallöhnen wegen der hohen Inflation, die Biden mitverursacht hat. Wenig überraschend ist auch, dass die in dieser Umfrage ausgewiesene Unzufriedenheit mit Bidens Leistung auf dem zweithöchsten Stand seiner Amtszeit liegt. Nur 7% der Befragten wären von einer zweiten Amtszeit Bidens begeistert, wohingegen 30% darüber verärgert wären (bei Trump liegen die entsprechenden Werte bei 17 bzw. 36%).
Bidens Chancen würden sich freilich verbessern, wenn es dem Fed gelänge, die Inflation bis Anfang 2024 einzudämmen. Doch Amerika steht sowohl intern wie extern vor grossen Herausforderungen: der Expansionismus Russlands und Chinas, die nuklearen Ambitionen Irans, Terrorismus, Rekordverschuldung, hartnäckig hohe Inflation, politische Polarisierung und langfristige Klimarisiken. Wenig überraschend ist das amerikanische Volk durchaus pessimistisch hinsichtlich der wirtschaftlichen, der haushaltspolitischen und der geopolitischen Zukunft. Wir brauchen dringend eine tatkräftige, umsichtige, ehrliche und einigende Führung, die uns durch eine potenziell gefährliche Phase der Weltgeschichte steuert. Wer wird das bieten?
Michael J. Boskin ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Stanford University und Senior Fellow an der Hoover Institution. Copyright: Project Syndicate.
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Meinung – Joe Biden hat ein Glaubwürdigkeitsproblem
Entsprechen wesentliche Behauptungen eines amerikanischen Präsidenten nicht einmal annähernd der Realität, verliert er seine Glaubwürdigkeit – das wertvollste Gut eines Chefs.