Zu viele Beobachter haben eine der wichtigsten Lehren des Ersten Weltkrieges aus den Augen verloren. Der Grosse Krieg wurde durch die Ermordung des österreichischen Erzherzogs Franz Ferdinand im Juni 1914 ausgelöst, die vor dem Hintergrund eines seit langem schwelenden Konflikts zwischen den europäischen Grossmächten stattfand. Diese Wechselwirkung zwischen der Eskalation eines Konflikts und einem politischen Funken hat heute eine besondere Bedeutung.
Angesichts des Krieges in der Ukraine und der Mentalität des kalten Krieges, die die USA und China erfasst hat, sind die historischen Parallelen nicht zu übersehen. In der Welt brodeln Konflikte und Ressentiments. Alles, was noch fehlt, ist ein auslösendes Ereignis. Angesichts der Spannungen in Taiwan, im Südchinesischen Meer und in der Ukraine gibt es viele mögliche Auslöser, die Anlass zur Sorge geben.
Taiwan ist ein Spitzenkandidat. Selbst wenn man, wie ich, die Ansicht der USA nicht teilt, dass Staatschef Xi Jinping den Zeitplan für die Eroberung verkürzt hat, könnten Washingtons jüngste Massnahmen ihn am Ende dazu zwingen. Die frühere Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, reiste im vergangenen August nach Taipeh, und ihr Nachfolger, Kevin McCarthy, scheint das Gleiche tun zu wollen. Der neu eingerichtete Sonderausschuss des Repräsentantenhauses für China wird wahrscheinlich in Kürze eine eigene Delegation entsenden, besonders nach dem unangekündigten Besuch seines Vorsitzenden Mike Gallagher vor kurzem.
Brennpunkte Taiwan und Ukraine
Derweil lässt der gerade abgeschlossene Besuch eines hochrangigen Pentagon-Beamten in Taipeh nach der Verabschiedung des 10 Mrd. $ schweren Taiwan Enhanced Resilience Act im Dezember wenig Zweifel an der militärischen Unterstützung der USA für Chinas sogenannte abtrünnige Provinz. Während die USA das im Schanghai-Communiqué von 1972 verankerte Ein-China-Prinzip nur zögernd verteidigen, kann es keinen Zweifel mehr an der politischen Unterstützung der USA für die Bewahrung des unabhängigen Status Taiwans geben. Das ist eine rote Linie für China – und ein geopolitischer Brennpunkt für alle anderen.
«Heute sind die USA das Ziel einer neuen Dreieckskonstellation, denn China hat sich mit Russland zu einer Partnerschaft ‹ohne Grenzen› zusammengeschlossen, die die Hegemonialmacht USA aufs Korn nimmt.»
Ich mache mir ebenso grosse Sorgen über einen Funken in der Ukraine. Nach einem Jahr in diesem schrecklichen und einst unvorstellbaren Konflikt kündigt Putins Frühjahrsoffensive eine neue, bedrohliche Wendung an. Die USA warnen vor einer Eskalation der chinesischen Unterstützung für Russland, die von nicht tödlicher Hilfe (wie dem Kauf russischer Energieprodukte) zu tödlicher Hilfe (Waffen, Munition oder logistischen Waffenlieferungen) übergeht.
Die vage Drohung der Biden-Administration mit ernsten Konsequenzen für China, sollte es Russland militärische Unterstützung für seine Kriegsanstrengungen leisten, erinnert an ähnliche Warnungen der USA, die der Verhängung beispielloser Sanktionen gegen Russland vorausgingen. In den Augen der amerikanischen Politiker wäre China durch Parteinahme mitschuldig und müsste dafür einen sehr hohen Preis zahlen. Genauso wie Taiwan für China eine rote Linie darstellt, ist Washington der Ansicht, dass dies auch für die chinesische militärische Unterstützung des russischen Kriegszugs gilt.
Ein neuer kalter Krieg
Es gibt noch viele andere potenzielle Auslöser, nicht zuletzt die anhaltenden Spannungen im Südchinesischen Meer. Die jüngste Ausweitung des amerikanischen Zugangs zu philippinischen Militärbasen, die auf halbem Weg zwischen Taiwan und Chinas militarisierten Inseln in der Scarborough Shoal und dem Spratly-Archipel liegen, ist ein typisches Beispiel dafür.
Da die USA weiterhin die Freiheit der Schifffahrt in den internationalen Gewässern des Südchinesischen Meeres durchsetzen, indem sie dort Marineschiffe patrouillieren lassen, kann die Möglichkeit eines Unfalls oder einer unbeabsichtigten Konfrontation kaum ausgeschlossen werden. Der Beinahezusammenstoss zwischen einem US-Aufklärungsflugzeug und einem chinesischen Kampfflugzeug Ende Dezember ist ein Hinweis auf diese Risiken, die umso schwerwiegender sind, als die militärische Kommunikation zwischen den beiden Supermächten zusammengebrochen ist, was beim Ballonfiasko vor wenigen Wochen deutlich geworden ist.
Der Kontext ist entscheidend für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit eines Funkenschlags. Unter dem politischen Deckmantel dessen, was sie als Kampf zwischen Autokratie und Demokratie ausgeben, waren die USA in den vergangenen sechs Monaten der Aggressor, der den Druck auf Taiwan erhöht hat. Auch der Vorfall mit dem chinesischen Überwachungsballon hat der amerikanischen Öffentlichkeit die Bedrohung durch den kalten Krieg sehr viel näher gebracht. Hochrangige Diplomaten beider Seiten, Aussenminister Antony Blinken und sein chinesischer Amtskollege Wang Yi, haben die Rolle des klassischen kalten Kriegers übernommen. Ihre kämpferische Rhetorik auf der jüngsten Münchner Sicherheitskonferenz spiegelt die ihres ersten Treffens in Anchorage vor fast zwei Jahren.
«Narrative Segmentierung»
Wie vor dem Ersten Weltkrieg ist die Versuchung gross, das Risiko eines umfassenderen Konflikts herunterzuspielen. Schliesslich steht in der globalisierten, vernetzten Welt von heute zu viel auf dem Spiel, als dass man einen weltweiten Zusammenprall riskieren könnte. Dieses Argument ist schmerzlich vertraut. Es ist das gleiche, das im frühen 20. Jahrhundert vorgebracht wurde, als die erste Globalisierungswelle ihren Höhepunkt erreichte. Bis zum 28. Juni 1914 erschien es vielen überzeugend.
Der historische Vergleich mit dem Jahr 2023 muss aktualisiert werden, um die grosse Strategie des Kalten Krieges darzulegen. Ein entscheidender Wendepunkt im Kalten Krieg mit der Sowjetunion war 1972, als US-Präsident Richard Nixon nach China reiste und schliesslich gemeinsam mit Mao Zedong eine erfolgreiche Triangulationsstrategie gegen die UdSSR einrichtete. Heute sind die USA das Ziel einer neuen Dreieckskonstellation, denn China hat sich mit Russland zu einer Partnerschaft «ohne Grenzen» zusammengeschlossen, die die Hegemonialmacht USA aufs Korn nimmt. Diese entscheidende Veränderung lässt die Lehren von 1914 immer deutlicher hervortreten.
Ich habe gerade ein Buch über den zufälligen Konflikt veröffentlicht, der aus dem Duell der falschen Narrative zwischen den USA und China entstanden ist, und bin besonders besorgt über die «narrative Segmentierung». Jede Seite ist überzeugt, dass sie die moralische Oberhand hat, während der Konflikt von einem Zwischenfall zum nächsten führt. Für die USA war Chinas Überwachungsballon eine Bedrohung der nationalen Souveränität. Für China stellt die Unterstützung der USA für Taiwan eine ähnliche Bedrohung dar. Jeder Spannungspunkt löst dann eine Kaskade von Vergeltungsmassnahmen aus, ohne dass die kollateralen Auswirkungen auf ein zutiefst konfliktgeladenes Verhältnis erkannt werden.
Drei Grossmächte – Amerika, China und Russland – scheinen alle von einer tiefgreifenden historischen Amnesie befallen zu sein. Sie schlafwandeln gemeinsam auf dem Weg der Konflikteskalation und führen Sprengstoff mit sich, der nur allzu leicht gezündet werden könnte. Genau wie 1914.
Stephen S. Roach, ehemaliger Vorsitzender von Morgan Stanley Asia, ist Fakultätsmitglied an der Yale University. Copyright: Project Syndicate.
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Meinung – Schlafwandelnd in den Krieg
Die gewaltigen Spannungen zwischen den USA, China und Russland könnten sich ungewollt entladen. Es braucht bloss einen Funken am Pulverfass – wie 1914.