Der Rekordverlust 2022 kommt der Schweizerischen Nationalbank nicht ganz ungelegen. Er zeigt: Ein schlechtes Jahr genügt, und die Reserven für die Ausschüttung an Bund und Kantone sind ausradiert. Und er bestätigt das Mantra, wiederholt bei jedem Quartalsabschluss und von kantonalen Finanzdirektoren gerne überhört: «Das Ergebnis der Nationalbank ist überwiegend von der Entwicklung der Gold-, der Devisen- und der Kapitalmärkte abhängig. Starke Schwankungen sind die Regel.»
Das starke Minus bremst die Forderung von Politikern nach mehr Gewinnverteilung. Es macht auch klar, wie schlecht die heutigen Regeln sind. Die Ausschüttung der Nationalbank sollte von ihrem Jahresergebnis – es ist das Resultat der Geldpolitik – getrennt werden. Die SNB soll den Leitzins festlegen und via Fremdwährungsanlagen den Franken dirigieren, um die Inflation zu bändigen – auch wenn ein grosser Verlust resultiert. Das tue sie, so heisst es, gemäss ihrem Mandat bereits jetzt. Aber die Regeln stehen ihr im Weg, und für Kantone, die auf eine Zahlung der Nationalbank zählen, ist jeder Ausfall unerfreulich.
Abhilfe schüfe ein Ausgleichsfonds, ähnlich wie bei der AHV. Er trennt die Geldpolitik von der Ausschüttung, und er begegnet Forderungen, etwa des unabhängigen SNB-Observatoriums, die Nationalbank solle trotz Rekordverlust Geld ausschütten.
Das Ziel sind 20% Eigenkapital
Natürlich gehört der Nationalbankgewinn den Kantonen und dem Bund, letztlich den Steuerzahlern, denn die SNB ist eine staatliche Institution. Sie erzielt langfristig einen Überschuss, da sie fast gratis Geld druckt – oder elektronisch erschafft – und herausgibt, und weil ihre Fremdwährungsanlagen über die Jahre im Schnitt einen Gewinn einbringen. Dieses Jahr aber nicht.
Der Verlust der ersten drei Quartale beträgt 142 Mrd. Fr., noch nie sind die Fremdwährungsanlagen so schnell geschrumpft. So streicht die SNB für das Geschäftsjahr 2022 aller Voraussicht nach die Ausschüttung an Bund und Kantone. Das geschah auch schon nach dem Jahresverlust 2013 von 9 Mrd. Fr. und war für die Finanzdirektoren ein Schock. Jetzt ist es immerhin absehbar.
Wie also Kantone und Nationalbank voneinander befreien? Zentral wäre, dass die SNB ein Ziel für das Eigenkapital bestimmt: Es soll 20% der Bilanzsumme betragen. Per Ende September macht das Eigenkapital nur noch gut 6% der Bilanz aus. Das ist fast so wenig wie das Minimum von knapp 6% im Sommer 2015 nach dem Frankenschock, als die SNB den Euromindestkurs aufhob. Vor der Finanzkrise 2008 lag die Eigenkapitalquote über 50%, Anfang dieses Jahres noch auf 19%.
Das Ziel lässt sich mit einer Regel erreichen: Die SNB-Gewinne fliessen so lange vollumfänglich ins Eigenkapital, bis die 20% erreicht sind. Jeder weitere Jahresgewinn kommt automatisch in den SNB-Ausgleichsfonds. Dieser Fonds ist aber keine Reserve der SNB, er gehört nicht zu ihrer Bilanz und wird nicht von ihr verwaltet. Das ist wichtig für die Trennung zwischen Geldpolitik und Ausschüttung.
Bislang ist der Ablauf nicht so einfach. Vom Gewinn fliesst zuerst ein bestimmter Teil auf das Konto «Rückstellungen», die zum Eigenkapital gehören und es stärken. Der jährliche Betrag für die Rückstellungen ist seit der Finanzkrise drei Mal erhöht worden, trotzdem ist das Eigenkapital von 50 auf 6% gefallen. Es konnte nicht Schritt halten mit der Bilanzsumme, die sich wegen des Kaufs von Fremdwährungsanlagen versiebenfacht hat.
Der nach Abzug der Rückstellungen verbleibende Gewinn wird nicht sofort an Bund und Kantone ausgezahlt, sondern fliesst auf das Konto «Ausschüttungsreserve». Sie dient als Puffer, damit auch nach einem Jahresverlust Geld bezahlt werden kann. Weil diese Reserve ebenfalls zum Eigenkapital gehört, ist die SNB direkt mit Bund und Kantonen verkoppelt: Aus der Geldpolitik mit den Fremdwährungsanlagen resultiert ein Gewinn oder ein Verlust, der das Eigenkapital erhöht oder senkt und die Ausschüttung vorgibt.
Diese Verkettung würde der SNB-Ausgleichsfonds unterbrechen: Der Gewinn fliesst ins Eigenkapital bis zur Schwelle von 20% und dann in den externen Fonds.
SNB-Kapital dient als Kantonspuffer
Mit dem SNB-Ausgleichsfonds könnten Bund und Kantone machen, was sie wollen. Die Höhe der Ausschüttung wäre nicht mehr fremdbestimmt. Als einzige Vorschrift gälte, wie bisher, dass den Kantonen zwei Drittel zustehen. Die Finanzdirektoren könnten alles entnehmen, was von der SNB zufliesst. Oder sie verstetigen die Zahlungen, ähnlich wie heute die SNB mit ihrem Konto «Ausschüttungsreserve». Oder aber sie nehmen in wirtschaftlich guten Zeiten mit hohen Steuereinnahmen wenig und in einer Rezession mehr. So wäre der SNB-Ausgleichsfonds ein Stabilisator.
Zur Verfügung stünde also das Geld im Ausgleichsfonds und nicht die Ausschüttungsreserve der SNB. Mit ihrem Eigenkapital hat dann eine politische Auseinandersetzung über die Höhe der Auszahlung nichts mehr zu tun. Verwaltet werden könnte der Fonds von der unabhängigen Bundesbehörde Compenswiss, die bereits für den AHV-Ausgleichsfonds zuständig ist. Dieser dient als Pufferfonds, wenn in einem Jahr die Ausgaben der AHV grösser sind als die Einnahmen. Analog gäbe es einen stabilisierenden SNB-Pufferfonds.
Heute verhandelt die Nationalbank mit dem Eidgenössischen Finanzdepartement – die Kantone bleiben aussen vor – über Regeln, um die Ausschüttungen zu verstetigen. Für die Geschäftsjahre 2016 bis 2020 galt für die Auszahlung zunächst eine Obergrenze von 2 Mrd. Fr. Eine Zusatzvereinbarung erhöhte für 2019 und 2020 die Grenze auf 4 Mrd. Fr. Eine neue Regel hob dann die Grenze rückwirkend ab 2020 auf 6 Mrd. Fr. Das gilt bis 2025, falls nicht erneut vorzeitig revidiert wird.
Hinaufgesetzt worden ist die Obergrenze, weil seit 2017 eine riesige Ausschüttungsreserve angewachsen war. Sie betrug Ende vergangenes Jahr 103 Mrd. Fr. Da wirkt eine Auszahlung von 6 Mrd. Fr. knausrig. Doch mit dem Rekordverlust 2022 präsentiert sich die Lage ganz anders. Die riesige Reserve ist aufgebraucht.
Simple Regel statt Verhandlungsrunden
Weshalb eine Eigenkapitalquote von 20%? Die SNB habe nie erklärt, wie viel Kapital sie haben zu müssen glaube, kritisiert das SNB Observatory der Wirtschaftsprofessoren Yvan Lengwiler aus Basel und Charles Wyplosz aus Genf mit Stefan Gerlach, Chefökonom EFG-Bank in Zürich und früher Vizepräsident der irischen Notenbank. Eine Zentralbank sei kein normales Unternehmen, da sie nicht Konkurs erleiden könne.
Tatsächlich lässt sich die Geldpolitik auch ohne Eigenkapital führen – das haben die Zentralbanken in Chile, Israel und Tschechien in der Vergangenheit gezeigt. Anderseits sagte SNB-Präsident Thomas Jordan in der Eurokrise 2011 in einer Grundsatzrede, ein langer Zustand mit negativem Eigenkapital gefährde die Glaubwürdigkeit und die Unabhängigkeit der SNB.
Statt 20% gingen auch 10%, mit weniger Sicherheitsabstand zur Nulllinie. Auf Eigenkapital zu verzichten, würde aber zu unnötigen Diskussionen und Zweifeln führen. Die Höhe ist für Bund und Kantone langfristig nicht so wichtig, weil alles Geld über dem Sicherheitsabstand ohnehin in den SNB-Ausgleichsfonds fliesst. Jetzt aber trotz Rekordverlust Geld auszuzahlen, wie das SNB Observatory es fordert, wäre falsch, denn die derzeitigen 6% Eigenkapital sind allzu wenig.
Die SNB ist nicht gewinnorientiert und sollte auch nicht ausschüttungsorientiert sein. Es darf nicht ihre Aufgabe sein, mit Eigenkapital die Auszahlungen zu verstetigen. Vielmehr sollte der Verlust Anstoss sein für eine simple Regel: Sobald das Eigenkapital 20% der Bilanz übersteigt, fliesst der Gewinn in den SNB-Ausgleichsfonds, wo sich Bund und Kantone bedienen. Fertig.
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Meinung – SNB und Kantone befreien
Die Nationalbank muss die Geldpolitik ungehindert führen, ohne Rücksicht auf die Gewinnausschüttung an die Kantone. Und diese sollen nicht fremdbestimmt leer ausgehen. Befreiung für beide bringt ein Ausgleichsfonds. Ein Kommentar von Ressortleiter Philippe Béguelin.