Wenn es um die eigene Energiesicherheit geht, werden hehre Vorsätze schnell zu Makulatur. Nichts zeigt dies besser als die drastische Kehrtwende, die die Europäische Union kürzlich in einem wichtigen Punkt gegenüber Afrika vollzogen hat: Hatte die EU den Nachbarkontinent im Süden jahrelang reichlich oberlehrerhaft dazu gedrängt, sich endlich von der Förderung fossiler Brennstoffe abzuwenden und (nach deutschem Vorbild) ganz auf grüne Energie zu setzen, so hat sich all dies seit dem Ausfall Russlands als verlässlicher Energielieferant grundlegend gewandelt.
Plötzlich gilt sogar das politisch extrem unruhige Nigeria mit seinem Reichtum an fossilen Energieträgern und der seit langem geplanten Trans-Sahara-Pipeline als neuer Hoffnungsträger. Durch die mehr als 4000 km lange Röhre soll irgendwann Gas aus dem Nigerdelta zunächst nach Algerien strömen und von dort über ein bereits bestehendes Netz an Pipelines durch das Mittelmeer nach Europa transportiert werden.
Die Kehrtwende überrascht umso mehr, als die EU zusammen mit den USA und Grossbritannien gerade erst ein 8,5 Mrd. $ schweres Anreizprogramm für Südafrika aufgelegt hat, das dem Land am Kap den Übergang zu den Erneuerbaren ebnen und es ermuntern soll, das umweltschädliche Verbrennen von Kohle zu stoppen. Doch statt mit gutem Beispiel voranzugehen, erhöht Deutschland nun seinerseits die Kohleimporte aus Südafrika: Bezog es 2021 rund eine Million Tonnen vom Kap, sollen es in diesem Jahr wegen des Ausfalls russischer Kohle noch mehr sein.
Neue «Tankstelle Europas» – von wegen
Nebenher treibt der neue und globale Wettbewerb um fossile Energieträger den Preis für Kohle aus Südafrika (oder auch aus Indonesien) kräftig nach oben. Das Hochfahren von Kohlekraftwerken in mehreren europäischen Ländern hat für einen Anstieg der weltweiten Kohlenachfrage gesorgt. Vor allem ärmere asiatische sowie erste afrikanische Staaten haben jüngst die Erfahrung gemacht, im Bieterwettbewerb um knappe Energieträger gegen zahlungskräftigere Abnehmer aus Europa nicht bestehen zu können.
«Es ist zu bezweifeln, dass Afrika tatsächlich der Notnagel und Retter sein kann, den Europa so dringlich sucht.»
Schon deshalb bleiben viele Zweifel daran, ob Afrika tatsächlich der Notnagel und Retter sein kann, den man in Europa nach dem Wegfall der russischen Gaslieferungen so dringlich sucht. Einige Beobachter sind geradezu euphorisch und feiern bereits Afrikas neue Rolle als künftige «Tankstelle Europas», zumal Namibia, Ghana und Uganda gerade neu entdeckte Ölvorkommen erschliessen wollen. Namibia übrigens möchte einer der grössten Lieferanten von grünem Wasserstoff werden, so teuer und logistisch schwierig die Herstellung auch sein mag.
Dabei setzt schon die weniger komplexe Gaspipeline durch die Sahara vieles in ernüchternde Perspektive. Seit 50 Jahren wird an der Idee gebastelt (fast so lange wie an dem Vorhaben, die Stromschnellen des Kongo für ein Projekt zu nutzen, das angeblich halb Afrika mit Elektrizität versorgen würde). Andauernde Streitereien und die Präsenz von Banditen und Terrorbanden im Sahel haben das Pipeline-Projekt jedoch nie wirklich vorankommen lassen; dass im Februar seine Wiederaufnahme vereinbart wurde, ändert daran einstweilen nichts.
Schlechte Sicherheitslage
Eine Warnung sollte auch das Desertec-Projekt sein, dessen Plan darin bestand, Europa mit sauberem (Solar-)Strom aus den Wüsten Nordafrikas und des Nahen Ostens zu versorgen. Unterschiedliche Interessen der mehrheitlich europäischen Teilnehmer wie Siemens, RWE oder ABB auf der einen und von Ländern wie Tunesien oder den Golfstaaten auf der anderen Seite führten bald zu tiefen Unstimmigkeiten. Hinzu kam, dass die politische Instabilität vieler Staaten in Nordafrika viel zu wenig berücksichtigt wurde. Oft wurden Projekte frühzeitig blockiert, weshalb es schliesslich zum Rückzug der meisten Konzerne aus dem Vorhaben kam.
Die immer schlechtere Sicherheitslage in Afrika gefährdet auch eine Reihe anderer Projekte. Moçambique liefert eine besonders eindrückliche Fallstudie dafür. Zwar liegt das südostafrikanische Land gleich hinter Nigeria, Algerien und dem Senegal an vierter Stelle gemessen an den Erdgasvorkommen in Afrika. Allerdings befindet sich sein riesiges Projekt in der Nordprovinz Cabo Delgado in einer von Islamisten besiedelten und extrem unsicheren Region.
Vor über einem Jahr stellte der französische Konzern Total deshalb die Arbeit am Onshore-Projekt (dem grössten privaten in Afrika) wegen fortgesetzter Gefährdung durch islamistische Terroristen ein, die kurz zuvor eine grössere Stadt in Projektnähe erobert hatten. Total rechnet jetzt frühestens ab 2026 mit der Aufnahme der Förderung statt ab 2024.
Marode Infrastruktur
Ein anderes Problem betrifft die Förderkapazitäten: Selbst wenn zum Beispiel die Trans-Sahara-Pipeline doch noch zustande käme, garantierte das noch lange keinen kontinuierlichen Gasstrom nach Europa, so wie man ihn zuvor aus Russland gewöhnt war. Energieexperten verweisen darauf, dass die Infrastruktur, die es in Nigeria allenfalls in Ansätzen gibt, infolge von Vandalismus, fehlender Finanzierung und Wartung weitgehend verfallen ist: Die vier maroden Ölraffinerien des Landes zeigen das deutlich. Gegenwärtig geht es zunächst einmal darum, eine halbwegs funktionierende Gasinfrastruktur aufzubauen, was Experten zufolge fünf Jahre oder länger dauert. Vorausgesetzt, das Projekt findet überhaupt die notwendige finanzielle Unterstützung.
Die Coronapandemie hat diese Abwärtsspirale zwar nicht ausgelöst, doch beschleunigt. So dürfte die Zahl der Nigerianer, die unter der internationalen Armutsgrenze von 1.90 $ am Tag leben, nach Angaben der Weltbank bis Ende dieses Jahres um weitere 20 Mio. auf 90 Mio. steigen – fast die Hälfte seiner Bevölkerung von rund 225 Mio. Selbst Indien mit siebenmal mehr Menschen verzeichnet weniger akute Armut.
Zur wirtschaftlichen Stagnation tritt die Gewalt. Bislang konzentrierte sich der Terror vor allem auf den bitterarmen muslimischen Norden, wo es immer wieder Entführungen durch die berüchtigte Terrorgruppe Boko Haram gab. Doch das ändert sich. Auf der Autobahn zwischen Abuja und Kaduna kommt es täglich zu Entführungen. Immer öfter werden auch Züge überfallen und Passagiere entführt.
Wirtschaftsmotor Nigeria stottert
Die Reformen in der grössten Volkswirtschaft Afrikas sind ins Stocken geraten. Seit Jahrzehnten sind die Einnahmen aus dem Ölgeschäft zur Subventionierung von Benzin und Strom missbraucht worden. Erst vor kurzem prophezeite die Weltbank, dass die Regierung in Abuja in diesem Jahr sagenhafte 12,6 Mrd. $ für Benzinsubventionen ausgeben werde. Dies dürfte sogar noch die Zusatzeinnahmen übersteigen, die Nigeria aus dem gestiegenen Rohölpreis zieht. Insgesamt dürften die Öleinnahmen sogar mindestens 10% unter denen des Vorjahres liegen. Im diesjährigen Zusatzbudget steckte die nigerianische Regierung mehr Geld in Benzinsubventionen als in Bildung, Gesundheit oder Soziales.
Ein weiterer Grund, weshalb Nigeria kaum Kapital aus dem gestiegenen Ölpreis schlagen kann, liegt in der von 1,8 Mio. auf nur noch 1,1 Mio. Barrel am Tag abgestürzten Produktion, den niedrigsten Stand seit Jahrzehnten. Inzwischen hat Angola das Land als grössten Produzenten südlich der Sahara überholt. Der rückläufige Ausstoss erklärt sich auch damit, dass die Nigeria National Petroleum Corporation nach Auszahlung der Subventionen kaum noch über Geld für den Ausbau und die Modernisierung der Ölgewinnung verfügt. Zumal ein grosser Teil des Rohöls noch vor dem Export gestohlen wird.
Insgesamt stellt sich die Frage, warum sich Europa zur Erhöhung seiner Energiesicherheit nun ausgerechnet von einem Kontinent abhängig machen will, der seit Jahrzehnten nicht als verlässlicher Lieferant auffällt.
Wolfgang Drechsler ist Afrika-Korrespondent von «Finanz und Wirtschaft» in Kapstadt.
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Meinung – Strom und Gas aus Afrika – ein Traum
Nach dem Ausfall der Ressourcenquelle Russland sucht Europa nach neuen Lieferanten. Alte Ideen werden aufgewärmt: Eine Gaspipeline durch die Sahara, Solaranlagen im Sahel, Transfer durchs Mittelmeer. Doch die Wünsche scheitern an der Wirklichkeit.