Kapitalismus beruht auf Wettbewerb. In der Praxis jedoch wird gegen dieses zentrale Prinzip häufig verstossen, weil ehrgeizige Kapitalisten naturgemäss danach streben, ihre Konkurrenten auszuschalten und sich eine beherrschende Marktstellung zu sichern, von der aus sie neue potenzielle Wettbewerber auf Abstand halten können. Der Erfolg hierbei kann einen reich machen und seinen Status als Visionär begründen. Aber er kann auch dazu führen, dass einem Furcht und Hass entgegenschlagen.
China – eine der erfolgreichsten Marktwirtschaften des 20. Jahrhunderts – führt aus eben diesem Grund derzeit Krieg gegen seine eigenen grossen Technologiekonzerne. Am auffälligsten war das, als es den Mitgründer der Alibaba Group, Jack Ma, nach dessen Kritik an der chinesischen Finanzaufsicht aus dem Verkehr zog. Die zutiefst über ihren Mangel an einem eigenen Big-Tech-Sektor besorgten Europäer konzentrieren sich derweil auf die Durchsetzung von Wettbewerbsregeln, um die Macht von Giganten wie Google und Apple zu begrenzen. In den USA haben sich die politischen Affinitäten von Big Tech (gegenüber der «woken» Linken und auch der «Red Pill»-Rechten) zu Brennpunkten innerhalb der zerstörerischen Kulturkriege des Landes entwickelt.
Es ist nur natürlich, sich Sorgen über die Marktmacht und den politischen Einfluss derart riesiger und enorm wichtiger Konzerne zu machen. Dies sind Unternehmen, die im Alleingang das Schicksal vieler kleiner und sogar mittelgrosser Länder bestimmen können. Ein grosser Teil der Debatte über den Einfluss der Konzerne ist dabei eher akademischer Art – aber nicht in der Ukraine, wo Technologien aus dem privaten Sektor während des vergangenen Jahres eine entscheidende Rolle auf dem Schlachtfeld gespielt haben.
Wettbewerb zwischen Tech-Giganten verschärft sich
Dank Elon Musks Satelliten-Internetservice SpaceX Starlink waren die Ukrainer in der Lage, in Echtzeit miteinander zu kommunizieren, die russischen Truppenbewegungen nachzuverfolgen und die Präzision ihrer Angriffe auf feindliche Ziele radikal zu verbessern (und so kostbare Munition zu sparen). Ohne Starlink wäre die ukrainische Verteidigung vermutlich zusammengebrochen.
«Die ältesten Unternehmen der Welt sind solche mit einer Nische in örtlich begrenzten, nichttechnischen Sektoren, die von Moden unabhängig sind.»
Doch angesichts der Launenhaftigkeit der Möchtegerndiktatoren aus den Konzernen sind solche technologische Abhängigkeiten per se riskant. Im Oktober hat Musk sein Eigentum an Twitter genutzt, um ein virtuelles «Referendum» über einen unausgegorenen Friedensplan auszurichten, der Russland die Krim überlassen würde. Als ukrainische Diplomaten protestierten, drohte er beleidigt, Starlink abzuschalten (und für einige Zeit ging der Zugriff darauf in umkämpften Gebieten tatsächlich verloren).
Paradoxerweise fällt die neue Debatte über die Macht der Konzerne in eine Zeit, in der sich der Wettbewerb zwischen den Technologieunternehmen verschärft. Radikaler technologischer Wandel führt besonders für bestehende Unternehmen und Geschäftsmodelle naturgemäss zu radikaler Unsicherheit. Neue, anscheinend revolutionäre Durchbrüche bei der künstlichen Intelligenz könnten selbst die mächtigsten Technologiegiganten obsolet machen, wenn sie es nicht schaffen, mit der Innovation Schritt zu halten. Bis eben erst stand die Überlegenheit von Alphabets Suchmaschine Google ausser Frage; jetzt läuft der Dienst plötzlich Gefahr, von OpenAI/Microsofts ChatGPT überholt zu werden. Facebook und Twitter wurden als unverzichtbare Social-Media-Plattformen betrachtet; inzwischen werden sie in hohem Tempo von anderen, wie etwa TikTok, verdrängt.
Permanente existenzielle Bedrohung
Diese Entwicklungen sollten nicht überraschen. In den Annalen der Wirtschaftsgeschichte ist Versagen sehr viel häufiger als bleibender Erfolg. Erinnern wir uns an Kodak. Die Tage dieses Kozerns waren gezählt, als er es versäumte, sich der digitalen Fotografie anzupassen. Die ältesten Unternehmen der Welt sind solche mit einer Nische in örtlich begrenzten, nichttechnischen Sektoren, die von Moden unabhängig sind. Wer nicht – wie ein japanischer Sake-Produzent oder ein toskanischer Winzer – eine derartige Nische besetzt, ist gefährdet.
Angesichts der bleibenden Bedrohung ihrer Existenz stehen grossen Unternehmen im Allgemeinen zwei Strategien zur Verfügung. Die erste besteht darin, weitere Innovationen zu blockieren oder zu vereiteln, indem man behauptet, sie seien gefährlich und destabilisierend. So machten etwa im 20. Jahrhundert die grossen Eisenbahnunternehmen aggressiv ihren politischen Einfluss gegen die Forderung der Automobilhersteller nach dem Bau von Schnellstrassen geltend.
Heute steht viel mehr auf dem Spiel, und die Rhetorik ist bombastischer. Einige führende Vertreter der Technologiewelt warnen, dass die neusten Innovationen innerhalb der Branche ohne strenge Regeln für die KI einen zivilisatorischen Zusammenbruch herbeiführen könnten. Das war eine der Botschaften des weithin verbreiteten, von KI-Forschern und Technologie-Ikonen wie Elon Musk unterzeichneten offenen Briefs über ein KI-Moratorium (wobei später enthüllt wurde, dass Musk in ein neues Start-up investiert hat, das mit OpenAI konkurrieren wird).
Betteln um staatlichen Schutz
Gemäss diesem Szenario könnte der heutige rapide Fortschritt zu einer künstlichen allgemeinen Intelligenz führen, die so leistungsstark und so unvorhersehbar ist, dass die Menschheit ihr letztlich, ohne es zu wollen, auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sein könnte. Science-Fiction-Autoren (und einige Philosophen) äussern seit langem ähnliche Gedanken. Würde man eine Superintelligenz mit dem Schutz der Umwelt betrauen, könnte sie durchaus entscheiden, dass die offensichtliche Lösung darin besteht, die Quelle des Problems zu beseitigen: den Menschen.
Vielleicht würde eine KI eine ihr zugewiesene Aufgabe auch schlicht so monomanisch verfolgen, dass sie – wie in Goethes Gedicht «Der Zauberlehrling» – nicht aufzuhalten wäre. Derartige Argumente spiegeln die allgemeine Stimmung der Angst, die für jede Ära rapider Veränderungen charakteristisch ist. Das Beispiel der Maschinenstürmer des 19. Jahrhunderts – der Ludditen – hat immer eine gewisse romantische Attraktivität.
Die zweite Option besteht für eine nervöse technische Elite darin, sich um staatlichen Schutz zu bemühen, indem man die Gefahren für die nationale oder die wirtschaftliche Sicherheit heraufbeschwört. Der Präsident von Microsoft, Brad Smith, warnt etwa, dass es derart massive Investitionen erfordere, KI-Systeme zu trainieren, dass tatsächlich nur einige wenige Institutionen dazu in der Lage seien – an erster Stelle chinesische wie die Akademie für künstliche Intelligenz in Peking.
Den Status quo bewahren
Beide Strategien zielen darauf ab, politische Rückendeckung gegenüber der Konkurrenz am Markt zu erhalten. Unternehmen, die per se gefährdet sind – weil sie an Unterfangen mit hohem Einsatz und ungewissem Ausgang beteiligt sind –, werden in grossen Ländern immer an die Politik appellieren, dass sie sie schützen möge. Sie wollen den Status quo bewahren, sei es, indem sie die regulatorische Last für neue Marktteilnehmer erhöhen oder dass sie Barrieren gegen ausländische Konkurrenten errichten.
Wir sollten diese natürlichen Tendenzen im Hinterkopf behalten, besonders nun, da die Pandemie und wachsende geopolitische Spannungen neue Impulse für technische Innovationen gesetzt haben. Der technologische Wandel wird wie immer zutiefst destabilisierend sein und neue Gewinner und Verlierer hervorbringen. Viele Seiten werden auf die Gefahren fixiert sein. Es ist ironisch, aber nicht gerade neuartig, dass der neue Technologiepessimismus am lautstärksten von denjenigen verbreitet wird, die an vorderster Front an den Innovationen von gestern beteiligt waren.
Harold James ist Professor für Geschichte und internationale Angelegenheiten an der Universität Princeton. Copyright: Project Syndicate.
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Meinung – Technologie für mich – und nicht für dich
Technologischer Wandel bringt immer neue Gewinner und Verlierer hervor. Besonders technologieskeptisch sind heute just diejenigen, die führend an den Innovationen von gestern beteiligt waren.