Vom legendären britischen Premier Lloyd George, 1. Earl Lloyd-George of Dwyfor, pflegte man zu sagen, dass er eine Aufgabe sah und von sich erwartete, dass er für die Bewältigung derselben gross genug sein werde. Von seinem ebenfalls berühmten Nachfolger, Winston Churchill, sagte man, dass er sich selbst sah und von der Aufgabe erwartete, dass sie für ihn gross genug sei. Beide waren überzeugte Demokraten und nahmen die Wahlperioden äusserst ernst. Lloyd George meinte geistreich, dass Wahlen die Rache des Bürgers seien. Ein Stimmzettel könnte manchmal auch ein Dolch aus Papier sein.
Nun, in Spanien ist bereits Wahlkampf, obwohl die richtungsweisenden Kommunal- und Regionalwahlen erst am 28. Mai stattfinden. Dann werden nicht nur die Stadt- und Gemeinderäte gewählt, sondern es finden in zwölf der siebzehn autonomen Regionen entscheidende Urnengänge statt. Für die links-linke Regierung von Ministerpräsident Pedro Sánchez steht viel auf dem Spiel, denn neuerdings deuten die meisten Umfragewerte auf einen knappen Sieg der konservativen Opposition hin. Die unsägliche Koalition aus Sozialisten und Neukommunisten könnte so spätestens bei den im Spätherbst ebenfalls zu erwartenden Parlamentswahlen zu einem Ende kommen, möglicherweise aber schon früher, je nach Ausgang der Regionalabstimmung vom Mai.
Peinliche Pannen im Kabinett Sánchez
Entsprechend ist die politische Stimmung im Lande empfindlich aufgeladen. Es vergeht kein Tag ohne Zoff in den eigenen Reihen der Regierung zwischen sozialistischen und Podemos-Ministern, zuletzt wegen der Reform des vor kurzem verabschiedeten Sexualstrafgesetzes «Nur Ja ist Ja». Das propagandistisch von der linken Gleichstellungsministerin Irene Montero im Parlament in Windeseile durchgeboxte Gesetz zeichnet sich durch zahlreiche technische Fehler aus, die in 700 Fällen zu Strafmilderung und zur vorzeitigen Freilassung von über siebzig Sexualverbrechern geführt haben. In der breiten Öffentlichkeit wurde diese Serie von Pannen als skandalöse Peinlichkeit empfunden.
«Die Ankündigung von Ferrovial, den Hauptsitz in die Niederlande zu verlegen, hat eine Welle der Entrüstung ausgelöst.»
Die Konservativen des Partido Popular (PP) sprechen offen von einer gescheiterten Politik der plumpen Einfälle, der Manipulation und der Indoktrination seitens der linken Regierungsmannschaft von Pedro Sánchez, der mit seinem egozentrischen Gehabe den Sinn für die Realität verloren habe. Sie bezichtigen die Regierung, mit ihrer Politik der künstlich aufgeheizten Konfrontation und des mangelnden Konsenses in staatstragenden Geschäften das politische Klima vergiftet zu haben. Ihre revisionistische Manie, sämtliche Stände der Gesellschaft beherrschen zu wollen, habe zu einer Ermattung der Demokratie und zu einer Einschränkung der individuellen Freiheit geführt. Auch das pünktlich zum internationalen Tag der Frau angekündigte Gesetz zur Gleichstellung von Frauen in der Politik und in den Verwaltungsräten der
Unternehmen sei reine Wahlkampftaktik und lenke von den wirklichen Problemen des Landes ab.
Liberales Freiheitsverständnis untergraben
Tatsächlich habe sich diese Exekutive in den vergangenen Monaten durch unternehmerfeindliche Parolen charakterisiert, die in krassem Widerspruch stünden zu dem von ihr angestrebten Anlocken von Investitionen aus dem Ausland. Erst in den letzten Wochen hat die Ankündigung des kotierten und weltweit operierenden Bauunternehmens Ferrovial, den Hauptsitz in die Niederlande zu verlegen, eine Welle der Entrüstung im Kabinett ausgelöst. Nicht wenige Analysten interpretieren diesen aussergewöhnlichen Schritt des Konzerns als Protestzeichen gegen die ständigen Tiraden aus dem linken Regierungslager.
Sánchez hat grosse Pläne für dieses Jahr. So will er unbedingt die Legislaturperiode ordentlich beenden, denn im zweiten Semester hat Spanien die EU-Präsidentschaft inne, und hier will der Premier verständlicherweise national und international punkten. Deshalb wird er die Parlamentswahlen nicht vorziehen. Wirtschaftlich steht das Land besser als erwartet da, die Inflation konnte leicht zurückgedrängt werden, und die NextGeneration-Milliarden aus Brüssel versprechen ein gutes Investitionsklima. Doch der schneidige Ministerpräsident hat viel beigetragen zu einer verabsolutierten Kultur der Inklusion, die das bürgerlich-
liberale Freiheitsverständnis auf der Grundlage individueller Selbstverantwortung prinzipiell in Frage stellt. Mit der Quadratur des Kreises hat er möglicherweise den Bogen überspannt. Auch für ihn gilt: Wahltag ist Zahltag.
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Meinung – Wahlkampfauftakt in Spanien
Im Mai werden die lokalen und regionalen Organe neu bestellt, im Spätherbst das nationale Parlament. Die politische Stimmung in Spanien ist bereits kräftig aufgeheizt.