Bis zum Gipfel der nordatlantischen Allianz Mitte Juli in Vilnius ist es inzwischen nicht mehr lange hin, und so wird derzeit überall erwogen, wie sich in der Frage der potenziellen Bündnismitgliedschaft der Ukraine ein weiteres Debakel verhindern lässt. Als sich die Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten vor fünfzehn Jahren in Bukarest mit derselben Frage befassten, schafften sie es nicht, eine glaubwürdige Übereinkunft darüber zu erzielen, wie man mit den Beitrittswünschen der Ukraine und Georgiens umgehen sollte. Wir alle müssen nun mit den Folgen leben.
Im Vorfeld des Gipfels von 2008 überzeugten der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko und der georgische Präsident Micheil Saakaschwili US-Präsident George W. Bush, dass eine Nato-Mitgliedschaft für ihre Länder die beste Option sei. Bush wiederum versprach, dass er in Bukarest eine Nato-Entscheidung herbeiführen würde. Das ging nicht gut aus. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy und Bundeskanzlerin Angela Merkel standen der Idee ablehnend gegenüber; sie argumentierten, dass die Ukraine und Georgien noch nicht reif für die Mitgliedschaft seien und dass man es nicht riskieren sollte, Russland vor den Kopf zu stossen.
Was die Ukraine anging, war der erste Punkt unzweifelhaft berechtigt, nicht zuletzt, weil weite Teile der ukrainischen Gesellschaft die Nato-Mitgliedschaft ablehnten. Es war erst ein Jahrzehnt her, dass Nato-Bomben auf Belgrad gefallen waren; daher war die Frage des Beitritts zum Bündnis hochgradig umstritten. Es ist unklar, wie ein Volksentscheid über die Mitgliedschaft ausgegangen wäre, hätte man damals die ukrainischen Wähler befragt.
Der schlechte Kompromiss von Bukarest
Russland stand der Idee offensichtlich ebenfalls ablehnend gegenüber. Putin machte dies bei seiner Gipfelteilnahme klar (es waren andere Zeiten) und hielt eine Rede, in der er im Wesentlichen die Eigenstaatlichkeit der Ukraine bestritt. Die Zuhörer waren fassungslos, doch Putin hat an dieser Haltung jahrelang standhaft festgehalten.
«Russlands Einmarsch in der Ukraine hat Befürchtungen, den Kreml zu provozieren, hinfällig werden lassen.»
Letztlich einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Nato-Mitglieder auf einen Kompromiss, der die schlechteste aller Möglichkeiten darstellte. Während das Bündnis klarstellte, dass Georgien und die Ukraine Mitglieder werden sollten, fügte es eiligst hinzu, dass der Beitritt nicht auf der Stelle geschehen würde. Die Tür zur künftigen Mitgliedschaft erschien damit geöffnet, was die Stimmung in Russland anheizte und bei denjenigen, die die Idee unterstützten, übertriebene Hoffnungen weckte.
Dabei hatte keine Seite eine echte Grundlage für ihre Annahmen. Der schwammige Nato-Kompromiss stellte keine echte Bedrohung Russlands dar, denn er brachte die Ukraine und Georgien der Mitgliedschaft nicht wirklich wesentlich näher. Bis zu Putins illegaler Annexion der Krim 2014 behielt die Ukraine eine Politik der Neutralität gegenüber Russland und der Nato bei.
Im Vorfeld der US-Wahlen
Trotzdem blieb das Erbe des Nato-Debakels von Bukarest eine Belastung für das Bündnis. Nun, da es ein neuerliches Drängen auf eine ukrainische Mitgliedschaft gibt, wird das Thema in Vilnius im Mittelpunkt stehen. Die Lage hat sich seit 2014 eklatant verändert. Russlands Einmarsch in der Ukraine im vergangenen Jahr hat Befürchtungen, den Kreml zu provozieren, hinfällig werden lassen, und in der Ukraine ist die Frage der Nato-Mitgliedschaft kein strittiges Thema mehr. Putins Angriffskrieg hat das Land in seiner Unterstützung der Mitgliedschaft komplett geeint.
Die mit dem Thema verknüpften politischen Fragen jedoch sind heute nicht weniger kompliziert als vor fünfzehn Jahren. Viele politische Entscheidungsträger in Washington und in anderen westlichen Hauptstädten haben Bedenken, die Ukraine zu schnell ins Bündnis zu holen. Es bleibt unwahrscheinlich, dass zwei Drittel der US-Senatoren im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2024 zur Ratifizierung der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine bereit sein werden. Das Problem ist nicht bloss, dass einige Republikaner einen «Blankoscheck» für die Ukraine ablehnen; Joe Bidens Regierung und die Demokraten im Kongress wollen Donald Trump zudem kein nützliches Wahlkampfthema bieten, auf das er seine America-First-Kampagne stützen kann.
Darüber hinaus ist die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine im Augenblick wohl nicht das dringendste Thema. Während die Vorstellung, dass die USA in Bachmut Truppen an die Front schicken werden, derzeit abwegig ist, ist die Aufrechterhaltung eines starken, stetigen Flusses an Militär- und Finanzhilfe für die Ukraine dringend erforderlich und absolut machbar, solange der politische Wille dazu besteht. In den kommenden Monaten werden konkrete Hilfen der Ukraine sehr viel mehr nützen als formelle Zusagen auf dem Papier.
Kein weiteres Debakel
Trotzdem wird das Trauma von Bukarest auf dem diesjährigen Gipfel lasten. Viele osteuropäische Nato-Mitglieder sind der festen Überzeugung, dass der Zeitpunkt gekommen ist, um vergangene Fehler zu korrigieren und das vor fünfzehn Jahren gegebene vage Versprechen zu konkretisieren. Ein weiteres Debakel wie in Bukarest, so warnen sie, würde das Bündnis auf Jahre belasten.
Letztlich werden die Wortschmiede eine Lösung produzieren müssen, die einen klaren Pfad hin zur ukrainischen Mitgliedschaft vorgibt, selbst wenn sie keinen unmittelbaren Beitritt bringt. Anders als 2008 kann es keinen Zweifel mehr geben, dass die Mitgliedschaft kommt. Die Sicherheit der Ukraine ist für Europas Stabilität von zentraler Bedeutung, und das wird noch Jahrzehnte so bleiben. Die Nato wurde geschaffen, um einer Aggression Widerstand zu leisten und Europa zu schützen. In Vilnius geht es daher nicht nur um die Zukunft der Ukraine, sondern auch um die des Bündnisses.
Carl Bildt war schwedischer Ministerpräsident und Aussenminister. Copyright: Project Syndicate.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Meinung – Was beim Nato-Gipfel in Vilnius auf dem Spiel steht
Die Mitgliedschaft der Ukraine im Bündnis wird kommen, denn ihre Sicherheit ist für Europas Stabilität von zentraler Bedeutung, noch auf Jahrzehnte hinaus.