Und wieder einmal blickt Washington in den Abgrund. Laut US-Finanzministerium wird der amerikanische Staat am 1. Juni seine Schulden nicht mehr bedienen können. Ein Zahlungsausfall der USA hätte weltweite Konsequenzen, die Finanzkrise 2008 wäre eine sanfte Brise dagegen. Um die Dystopie abzuwenden, muss der Kongress die Schuldenobergrenze anheben. Doch die tief zerstrittenen Parteien in Washington führen stattdessen den altbekannten Tanz auf. Präsident Joe Biden (Demokratische Partei) will vom Kongress eine bedingungslose Anhebung der Limite.
Der ist allerdings gespalten. Die Demokraten haben in der einen Kongresskammer, dem Senat, die Mehrheit. In der anderen Kammer, dem Repräsentantenhaus, gibt die Republikanische Partei den Ton an. Ihr Chef, Kevin McCarthy, fordert von Biden für die Erhöhung der Schuldengrenze durchaus vernünftige Einsparungen im Haushalt. Denn Defizit und Staatsschuld sind astronomisch hoch. Die meisten Amerikaner wünschen sich staatliche Mässigung. Doch darum geht es McCarthy nicht wirklich.
Er will den Rechtsaussen seiner Fraktion gefallen. Die haben ihn zu Jahresbeginn erst nach peinlichen fünfzehn Wahlgängen zum Vorsitzenden gewählt. Um im Amt zu bleiben, ist er angesichts der nur hauchdünnen Mehrheit auf das Wohlwollen eines Häufchens Rechtsextremer, Verschwörungstheoretiker und Wahlleugner angewiesen. Und die würden Amerika eher in den Bankrott schicken – wie ihr Idol Donald Trump es diese Woche gefordert hat –, als dem verhassten Joe Biden auch nur den kleinen Finger zu reichen.
Entscheidende Arbeiterschaft
So geht das Spiel in Washington seit Jahrzehnten, wenn sich beide Parteien im Kongress die Macht teilen müssen. Am Ende wird sich aber wieder alles lösen. Aktien- und Anleihenmärkte mögen kurzzeitig das Zittern bekommen. Doch Demokraten und moderate Republikaner werden die Schuldengrenze in einigen Tagen anheben. Die absolute Mehrheit der Abgeordneten hat kein Interesse am Zahlungsausfall.
Am Ende könnte sich Biden auch einfach auf die Verfassung berufen und die Schuldengrenze ignorieren. Denn er denkt nicht ans Sparen, und auch ihn treibt der Machterhalt. Der mit achtzig Jahren älteste US-Präsident der Geschichte sucht 2024 eine zweite Amtszeit. Dafür beliebt machen sollen ihn die beschlossenen historischen Ausgabenprogramme der vergangenen zwei Jahre. Damit will Biden eine entscheidende Wählerschicht halten, die ihm 2020 Vorschuss gegeben hat.
Damals schaffte er es, die Arbeiterschaft in den entscheidenden Bundesstaaten Wisconsin, Michigan und Pennsylvania wieder für die Demokratische Partei zu gewinnen. Zuvor stimmte sie 2016 für Trump, sicherte ihm die Stimmenmehrheit in diesen drei Staaten und machte ihn damit zum Präsidenten. Das, obwohl Trump schon damals kein Volksmehr bekam. Das ist auch nicht notwendig, wird der US-Präsident doch durch eine Art Ständemehr der US-Bundesstaaten bestimmt.
Seit seiner Wahl zielt Biden mit seiner Politik nun jedenfalls darauf, die «Büezer» im eigenen Lager zu halten. Eine Billionensumme an Steuergeld fliesst in Infrastruktur, den Ausbau der Mikrochipindustrie und der erneuerbaren Energien. An der Wirksamkeit solcher staatlicher Massnahmen ist immer starker Zweifel angebracht, doch zumindest derzeit rechnen Ökonomen und Analysten deshalb mit einer Renaissance der amerikanischen Industrie.
Zugleich schaltet Biden im Handelsstreit mit China, der einst von Vorgänger Trump vom Zaun gebrochen wurde, laufend den Gang hoch. Die Öffnung des Reichs der Mitte und eine Flut billiger Waren in die USA hätten viele Arbeitsplätze im Land zerstört, so die Lesart in der Arbeiterschaft. Darum überzieht Biden Peking mit Lieferstopps für wichtige Waren und verbannt chinesische Unternehmen aus den USA.
Zum Machterhalt betreibt Biden eine urlinke Politik aus dem Gewerkschaftshandbuch: Subventionen für die heimische Industrie, um Jobs zu Hause zu schaffen, kombiniert mit der tendenziellen Abschottung nach aussen, um die Stellen gegen Konkurrenz zu sichern. Doch genau in Letzterem liegt zurzeit sein grosses Problem.
Katastrophale Zustände
Am Freitag ist eine Covid-Notverordnung aus der Ära Trump ausgelaufen, die die USA für die meisten Asylsuchenden faktisch abgeriegelt hatte. Schon lange davor sammelten sich Zehntausende Menschen an der Südgrenze des Landes in Erwartung einer bald wieder offeneren Grenze, um illegal oder asylsuchend in die USA zu gelangen. Die humanitäre Lage in Nordmexiko grenzt ans Katastrophale, die amerikanischen Grenzstädte fürchten eine Flut von Obdachlosen. Selbst die Bürgermeister von New York City und Chicago, links regierten Städten rund zweitausend Meilen von der mexikanischen Grenze entfernt, rufen Washington bereits um Hilfe an. Sie können die hohe Zahl an Einwanderern, die von Texas und Florida nach Norden geschickt werden, finanziell kaum mehr tragen.
Auch dieses Problem ist ein altes. Ab 2014 explodierte die Zahl der Asylsuchenden regelrecht, nachdem für mehr und mehr Südamerikaner das Leben in wirtschaftlich maroden und politisch autokratischen Staaten unerträglich geworden war. Das US-Einwanderungsgesetz wurde dagegen zuletzt 1996 reformiert, seitdem können sich Demokraten und Republikaner auch hier nicht auf eine langfristige Lösung einigen. Das Thema wird längst im ganzen Land diskutiert, und in der Bevölkerung ist hängen geblieben, dass unter Trump die illegale Einwanderung weitaus geringer war als nun unter Biden.
Dieser nimmt darum auch hier Anleihen beim Vorgänger. Biden hat neue Vorgaben erlassen, die die restriktive Politik Trumps de facto fortschreiben und es erlauben, Einwanderer ohne Asylanspruch – und das sind die allermeisten – im Schnellverfahren abzuweisen. So hofft er, dass, bevor der Präsidentschaftswahlkampf 2024 so richtig heiss läuft, der Flüchtlingsstrom abebbt und seinen Gegnern keine Munition mehr bietet.
Neuauflage von 2020
Denn zurzeit sind seine Umfragewerte katastrophal. Nur knapp 40% der Wähler glauben, Biden erbringe eine gute Leistung. Doch unbeliebt war er bereits im vergangenen Jahr, und die Wähler sahen dennoch davon ab, der guten Tradition zu folgen und die Partei des amtierenden Präsidenten in den Parlamentswahlen brutal abzustrafen. Im Gegenteil gaben sie vielen extremen Kandidaten, die die Republikaner unter dem Einfluss Trumps aufgestellt hatten, eine krachende Abfuhr. Es war ein Plebiszit gegen den Ex-Präsidenten, der kommendes Jahr dennoch erneut als Kandidat seiner Partei zur Präsidentschaftswahl antreten könnte.
Denn die Vorwahlen zur Kür des republikanischen Kandidaten laufen ähnlich wie die Präsidentschaftswahl selbst ab. Der Kandidat, der im jeweiligen Bundesstaat die relative Mehrheit holt, gewinnt die Stimmen des ganzen Staates. Trump hat zwar nur noch eine Minderheit der Partei hinter sich, die ist relativ gesehen aber respektabel. Trotz Verurteilung zu einer Geldstrafe von 5 Mio. $ wegen sexuellen Missbrauchs dieser Tage, trotz Strafuntersuchung wegen Wahlbetrugs und Aufruhr zum Staatsstreich hält ihm bis zu ein Drittel der Parteigänger weiterhin die Treue. Treten nur drei parteiinterne Kandidaten gegen ihn an – und so viele sind es bereits –, dürften sie sich die restlichen Stimmen untereinander streitig machen und Trump mit einer relativen Mehrheit am Ende wieder als Präsidentschaftskandidat aufgestellt werden.
Das wahrscheinlichste Szenario für 2024 ist derzeit also die Neuauflage von Biden gegen Trump. Je nach Stimmung der Arbeiterschaft in den erwähnten drei entscheidenden Bundesstaaten könnte Trump ein weiteres Mal auch ohne Volksmehr ins Weisse Haus einziehen. Joe Biden tut politisch gerade alles dafür, dass das nicht nochmals passiert.
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Meinung zur US-Präsidentschaftswahl – Wie Donald Trump ins Weisse Haus zurückkehrt
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