Man kann über Putin sagen, was man will: Mit seinem Krieg hat er den Europäern die Augen geöffnet. Das betrifft nicht nur die Erkenntnis, wie gefährlich es ist, die militärische Sicherheit zu vernachlässigen, sondern auch ihre grünen Träume von einer neuen, besseren Energiewelt, die allein auf der Basis einer von Wind und Sonne angetriebenen Stromwirtschaft funktioniert. Seit eine unbekannte militärische Macht Europas wichtigste Gasleitung durch die Nordsee zerstört hat, wissen die Europäer, allen voran die Deutschen, wie sehr sie auf diese billige Energiequelle angewiesen sind.
Noch vor kurzem träumte manch einer von der Idee, Russland unter Druck setzen zu können, indem man kein Gas mehr von dort bezieht. Heute merken die Länder Europas die Last des Fehlens der Energieimporte aus Russland und streiten sich über die zu knappen Restmengen.
Die Vertreter der Embargo-Forderungen argumentierten, der Verzicht auf russisches Gas sei für eine Volkswirtschaft unbedeutend und könne leicht kompensiert werden, denn der Effekt auf das BIP sei nur gering. Auch kürzlich wieder blies eine neue Studie in das gleiche Horn. Nur etwa 300 Produkte könne die deutsche Wirtschaft nicht mehr herstellen, wenn das Gas fehle. Die könne es sich bei geringen wirtschaftlichen Konsequenzen leicht auf den internationalen Märkten beschaffen.
Es braucht regelbare Energie
Tatsächlich aber haben die Wohlfahrtseinbussen aufgrund einer Gasabschaltung mit dem BIP wenig zu tun, denn sie treten bei den Käufern des Gases und der gasintensiv produzierten Güter vor allem in Form von Preissteigerungen bei den Importen ein. Das BIP ist das Bruttoeinkommen, das bei der inländischen Produktion von Gütern entsteht, doch die Wohlfahrtseinbussen entstehen durch die Verteuerung der Importgüter, die aus diesem Einkommen erworben werden (Terms of Trade – Effekt). Diese Verteuerung wird bei der Berechnung des realen BIP nicht erfasst.
«Der Krieg in der Ukraine ist ein Experiment der Geschichte, das die Defizite der grünen Energiewende schonungslos blosslegt.»
Daraus folgt nicht, dass es keine BIP-Effekte gibt. Die kommen erschwerend hinzu. So geht es z.B. in der Chemieindustrie um die Methanol- und die Ammoniakherstellung, die die Basis der Düngemittelproduktion ist. Ob die nachgelagerten und komplementären Wertschöpfungsbereiche noch wettbewerbsfähig sind, wenn man die Grundstoffe in Europa nicht mehr herstellt, sondern in Amerika kaufen muss, ist zu bezweifeln. Es könnten sehr viele Arbeitsplätze betroffen sein, bis ein neues Gleichgewicht gefunden ist. Kein Wunder, dass der grosse Chemiekonzern BASF beschlossen hat, 5 Mrd. Euro in den Aufbau einer Chemiefabrik in China zu investieren.
Eine weitere Erkenntnis aus dem Krieg, die erst allmählich in das Bewusstsein der Öffentlichkeit dringt, ist die, dass die grüne Ersatzenergie aus Wind und Sonne, die heute zur Kompensation für die fossilen Brennstoffe propagiert wird, ohne diese Brennstoffe gar nicht verwertbar ist. Sie ist nämlich wetterabhängig, extrem volatil und kaum regelbar. Damit der grüne Flatterstrom überhaupt nutzbar ist, muss er mit einer regelbaren Energie kombiniert werden, die im Gegenrhythmus variiert, um die Nachfrage zu jedem Zeitpunkt zu befriedigen.
Im Extremfall der Dunkelflaute, wenn weder der Wind weht noch die Sonne scheint, muss die regelbare Energie die gesamte Nachfrage allein bedienen. Wenn eines Tages drei bis fünfmal so viel Strom benötigt wird wie heute, weil der Verkehr elektrisch ist und die Häuser mit Wärmepumpen geheizt werden, dann wird auch eine drei- bis fünfmal so hohe Kapazität der Anlagen für die Produktion einer regelbaren Energie benötigt.
Problem der saisonalen Schwankungen
Vorläufig besteht die regelbare Energie in den Industrieländern nur aus der Kernkraft, der Kohle und dem Gas. Für Deutschlands Energiewende weg von Kohle und Kernkraft bedeutet dies, dass das Land fast allein am Gas hängen würde, wenn es bei dem beschlossenen Fahrplan bliebe. Es kann dabei aber nicht bleiben, denn gerade das Gas fehlt ja nun. Der Krieg ist ein Experiment der Geschichte, das die Defizite der grünen Energiewende schonungslos blosslegt.
Nun ist guter Rat teuer. Viele hoffen auf die Batterien der E-Autos als Puffer zur Glättung des grünen Flatterstroms. Wenn die Verbrenner verboten und grösstenteils durch E-Autos ersetzt sind, werden diese Batterien eines Tages in der Tat einen Beitrag leisten können, die ganz kurzfristigen Schwankungen zu glätten, die innerhalb eines Tages stattfinden. Das Hauptproblem sind aber die saisonalen Schwankungen des grünen Stroms. Vor allem müssen die schwierigen Wintermonate bis zum März mit Strom überbrückt werden, der aus den Herbststürmen gewonnen wird. Dafür kommen Autobatterien nicht infrage, weil die Autos ja gefahren werden müssen. Diese Batterien reichen nicht einmal aus, die Energie, die die E-Autos selbst im Winter brauchen, im Herbst zu speichern und bis zum Verbrauch aufzubewahren.
Auf Frankreichs Atomstrom angewiesen
In einer entfernten Zukunft wird es nur die Möglichkeit geben, den wetterabhängigen Strom durch Kraftwerke zu glätten, die mit Wasserstoff betrieben werden, denn der Wasserstoff ist die bessere Batterie. Doch muss der Wasserstoff selbst aus einem bereits geglätteten Strom gewonnen werden, damit er sich wenigstens halbwegs wirtschaftlich erzeugen lässt. Er setzt also voraus, was er selbst erst noch schaffen soll. Wie dieses Dilemma wirtschaftlich gelöst werden kann, steht vorläufig noch in den Sternen.
Insofern bleibt Ländern wie Deutschland, die sich auf dem grünen Energiekurs befinden, kaum etwas anderes übrig, als zur Pufferung des grünen Stroms das extrem teure Flüssiggas zu kaufen, selbst nach neuen Gasquellen zu bohren und sich auf die Kernenergie, auch diejenige seiner Nachbarn in Frankreich und Tschechien zurückzubesinnen. Der Lernprozess wird aber schmerzlich verlaufen. Deutschland ist auch wegen seiner überaus ambitionierten Energiepolitik erneut, wie schon vor zwanzig Jahren, der kranke Mann Europas.
Hans-Werner Sinn ist Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität von München. Copyright: Project Syndicate.
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Meinung – Wieder der kranke Mann Europas
Deutschlands Energiewende weg von Kohle und Kernkraft bedeutet, dass das Land fast allein am Gas hängen würde – doch gerade das Gas fehlt nun.